Peter Burkhardt: Herr Müller, als Liberaler müssen Sie durstig nach Freiheit sein. Waren Sie das schon in Ihrer Jugend?

Jürg Müller: Eher unternehmerisch als freiheitsdürstend. Als ich 16 Jahre alt war, gründete ich mit zwei Kollegen ein kleines Partyunternehmen. Wir kauften eine Nebelmaschine und eine Lichtanlage, organisierten Partys, vermieteten unser Equipment und traten als DJs auf. Ich war damals eher apolitisch. Zum Liberalen wurde ich erst später, während des Volkswirtschaftsstudiums.

Viele Liberale klagen über eine zunehmende Vorschriftenwut in der Schweiz. Sie auch?

Ja. Es gibt eindeutig immer mehr Regeln. Wir haben das erst kürzlich in einer Studie aufgezeigt. Gleichzeitig wachsen die Staatsausgaben und der Stellenbestand im öffentlichen Sektor überdurchschnittlich. Die Politik baut ihre Zuständigkeiten laufend aus, ebenso ihren Einfluss, zum Beispiel durch Subventionen.

Für einen Liberalen ein Graus.

Was mir Sorgen macht: Selbst im internationalen Vergleich hat die Schweiz mittlerweile eine hohe Regulierungsdichte.

Welche Nachteile hat das für die Menschen und die Unternehmen?

Es nimmt viel Raum ein im Leben, die Regeln zu befolgen. Und sie werden dem Einzelfall oft nicht gerecht. Das fördert eine «Dienst nach Vorschrift»-Kultur, und es wird weniger selber nachgedacht. Übrigens gibt es diese Bürokratisierung nicht nur beim Staat, sondern auch bei grossen Unternehmen. Es gibt ein schönes Zitat von Winston Churchill: Wenn man zehntausend Vorschriften erlässt, zerstört man jeden Respekt vor dem Gesetz. Und das ist genau das Problem.

Sind Sie ein Libertärer und grundsätzlich gegen Regeln?

Überhaupt nicht. Es ist logisch, dass es in einem Staat Regeln braucht. Die Frage ist, welche und wie viele.

Wenn Sie drei Vorschriften sofort abschaffen könnten: Welche wären es?

Als Erstes fällt mir die rigide Zeiterfassung am Arbeitsplatz ein. Das ist in Zeiten flexiblen Arbeitens nicht mehr zeitgemäss. Es wäre sinnvoller, auf eine Jahres- oder eine Vertrauensarbeitszeit zu wechseln. Als Zweites sollte die Strafbarkeit des Drogenkonsums abgeschafft werden. Den Konsum zu kriminalisieren, schafft schlicht mehr Probleme, als es löst. Als Drittes gibt es im Datenschutz Vorschriften, die ein löbliches Ziel haben, aber wenig bringen und mühsam sind. Wir erleben es tagtäglich beim Wegklicken der Datenschutzerklärungen.

Jürg Müller, Direktor von Avenir Suisse

Jürg Müller, Direktor von Avenir Suisse. (KEYSTONE/Gaëtan Bally)

Was halten Sie von der Forderung, dass pro neue Vorschrift zwingend eine alte abgeschafft werden müsste?

Das ist auf den ersten Blick attraktiv, hat aber auch Nachteile. Mehrere Länder haben das bereits eingeführt, zum Beispiel Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Kanada und auch die Europäische Union. Allerdings ist die Wirkung umstritten und der Erfolg durchzogen. Darum hat Grossbritannien diese Form der Regulierungsbremse wieder abgeschafft.

Was dann?

Als Alternative schlagen wir eine «Löschwoche» vor: Das Parlament würde während einer bestimmten Woche pro Jahr nicht über zusätzliche Vorschriften reden, sondern nur darüber, welche überholten oder zu teuren Gesetze ersatzlos gestrichen werden können. Etwas Ähnliches machte Grossbritannien 2011 bis 2014.

Mit welchem Ergebnis?

Über 3000 Vorschriften wurden gelöscht oder nachgebessert. Für die Unternehmen brachte das jährliche Einsparungen von 1,2 Milliarden britischen Pfund.

Welches Land ist für Sie vorbildlich im Sinn einer möglichst liberalen Gesellschaftsordnung?

Trotz allem: die Schweiz. Weil wir hier einen Liberalismus haben, der von unten gewachsen ist, und keinen elitären Liberalismus. Es hat viel damit zu tun, wie die Schweiz entstanden und organisiert ist. In einem Nationalstaat, der zentral gesteuert ist, haben auch Liberale einen stärkeren Gestaltungsanspruch. In der Schweiz geht es dagegen mehr um die Verantwortung und die Beteiligung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Das finde ich extrem attraktiv.

Gibt es ein anderes Land, das Ihrem Ideal einer liberalen Gesellschaftsordnung nahekommt?

Historisch würde ich die USA nennen, mit ihrer Verfassung und ihrer föderalen Ordnung. Aber die USA haben an Strahlkraft verloren, wegen der innergesellschaftlichen Spannungen und der autoritären Tendenzen. Das ist ein Problem für die Welt. Wir bräuchten eine Hegemonialmacht, die den Liberalismus weltweit vertritt.

Welche Partei steht Ihnen am nächsten?

Vom Namen her die FDP. Aber ich bin in keiner Partei und war nie in einer. Ich war ja früher Journalist und bin das noch immer viel eher als Politiker. Ich habe mit allen Parteien Mühe, und bei allen Parteien finde ich auch Positives.

Welche stehen Ihnen am fernsten?

Die autoritären – egal, ob sie nationalistisch-konservativ sind oder sozialistisch. Die Polparteien sind nicht meins, aber auch dort gibt es Heterogenität, und je näher zur Mitte, desto mehr Deckungsgrade gibt es.

Ist die FDP wirklich eine liberale Partei?

Es gibt einen grossen Unterschied zwischen der Ideengeschichte und der Realpolitik. Keine Partei, egal ob FDP, SP oder Grünliberale, macht exakt das, was sie sagt. Denn alle müssen Kompromisse eingehen. Das ist auch gut. Aber genau darum bin ich in keiner Partei.

Sie weichen aus. Ich habe Sie zur FDP gefragt.

Ich bin näher an der Ideengeschichte des Liberalismus, als es die FDP ist. Ein Beispiel: Um das Klima zu schützen, schlagen wir vor, den Ausstoss von Schadstoffen mit einer Steuer zu belasten und die Einnahmen vollständig zurückzuverteilen. In der Realität ist es so: Wenn die Subventionstöpfe kommen, sind sie attraktiv. Zum Beispiel hat das Zürcher Kantonsparlament dieses Jahr mit den Stimmen der FDP beschlossen, die Ladestationen für Elektroautos zu subventionieren. Davon profitieren jene, die eine solche Station sowieso kaufen würden und es sich leisten können. Das ist mir fern.

Sie sind gegen die Verengung auf einen reinen Wirtschaftsliberalismus und streben einen umfassenden Liberalismus an. Was muss man darunter verstehen?

Es geht mir um die aufklärerischen Ideale: Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat. Und um die Menschenwürde. Das erste Grundrecht in der Bundesverfassung lautet: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.» Diese Idee stammt von Immanuel Kant, dem grossen Philosophen der Aufklärung. Menschen sollen nicht Mittel zum Zweck sein, sondern die Menschenwürde ist der Staatszweck.

Ist das denn gegeben? Heute bewirkt der Staat mit der gemeinsamen progressiven Besteuerung von Ehepaaren, dass viele Frauen ihre Arbeitspensen senken und die Kinderbetreuung übernehmen, während die Männer weiter hohe Pensen haben. So wird die Wahlfreiheit zwischen Mann und Frau in der Familie effektiv eingeschränkt.

Genau, aus liberaler Sicht soll der Staat neutral sein gegenüber jedem Lebensmodell. Er soll die Wahlfreiheit keinesfalls einschränken und keine Anreize setzen, wie die Menschen zu leben haben – weder steuerliche noch andere. Ob jemand polyamor lebt oder sich ein Paar für ein klassisches Rollenmodell entscheidet, hat der Staat nicht zu beeinflussen.

Was halten Sie davon, dass der Bundesrat in letzter Zeit mehrmals mit Notrecht operierte – nicht nur bei unzweifelhaften Notlagen wie der Covid-Pandemie, sondern auch bei staatlichen Rettungsmassnahmen wie bei UBS, Axpo und Credit Suisse?

Das ist problematisch. Die Rechtsstaatlichkeit wird jedes Mal geritzt, wenn Notrecht angewendet wird. Interessant finde ich, dass der Bundesrat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nie mehr auf Notrecht berufen hat. Und dann hat er es innert kurzer Zeit dreimal wegen systemischer finanzieller Risiken eines Unternehmens getan.

In der Schweiz musste zum zweiten Mal innert weniger Jahre eine Grossbank gerettet werden. Was leiten Sie daraus ab?

Das zeigt, dass hier die marktwirtschaftlichen Prinzipien des Scheiterns nicht mehr funktionieren. In einer Marktwirtschaft müssen Unternehmen scheitern können. Dieses Prinzip wurde sowohl bei der Rettung der UBS von 2008 wie auch bei jener der Credit Suisse in diesem Jahr geritzt. Das weltweite Finanzsystem ist morsch.

Inwiefern?

Es gibt einen Systemfehler in unserer Finanzarchitektur, den wir beheben sollten. Die systemischen finanziellen Risiken zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sollten weg.

Wie lässt sich das Problem beheben?

Ein Weg wäre, dass systemrelevante Banken die implizite Staatsgarantie, die sie geniessen, abgelten müssen. Denn sie verzerrt den Wettbewerb und wirkt als indirekte Subventionierung privater Akteure. Es ist aber extrem schwierig, den Preis für diese implizite Subvention genau zu bestimmen.

Braucht es eine strengere Regulierung, beispielsweise höhere Eigenmittelvorschriften oder die Möglichkeit, dass die Finanzmarktaufsicht Bussen aussprechen kann?

Was offensichtlich ist: Die bisherige Regulierung ist gescheitert. Und die war schon streng. Wenn man jetzt mehr vom Gleichen macht: Wieso soll es dann funktionieren? Wir sollten weg vom Ansatz, noch strengere Regeln zu erlassen, und einen Systemwechsel anstreben.

Einen Hinweis, wie Sie sich einen solchen Systemwechsel vorstellen, gaben Sie vor einigen Jahren mit dem Buch «End of Banking», das Sie zusammen mit einem anonymen Banker geschrieben haben. Bald werden Sie zusammen ein zweites Buch veröffentlichen. Fordern Sie die Abschaffung der Banken – oder werden sie sich selber abschaffen?

Weder noch. Es braucht immer Finanzinstitute, die Kredite vergeben, Kunden beraten und den Zahlungsverkehr sicherstellen. Aber was es nicht braucht, ist das Banking im Sinn der Schaffung systemischer Risiken. Diese entstehen durch die aufgeblähten Bankbilanzen und dadurch, dass Finanzinstitute neues Geld schaffen, wenn sie Kredite vergeben. Lassen Sie sich überraschen, welches Programm wir im neuen Buch vorlegen werden.

Die neue UBS wird von Kritikern als Megabank, ja als Monster bezeichnet, das aufgrund seiner schieren Grösse die gesamte Volkswirtschaft in den Abgrund ziehen könnte. Wie gross ist diese Gefahr?

Wie gross das Risiko eines Scheiterns der UBS ist, lässt sich kaum ermessen. Aber wenn es eintritt, ist es verheerend.

Avenir Suisse wird finanziert von 160 Unternehmen. Können Sie solche Meinungen frei äussern? Immerhin ist auch die UBS unter Ihren Förderern.

Mein Buch ist öffentlich – und ich bin zum Direktor gewählt worden. Das ist ein klares Zeichen, dass Avenir Suisse unabhängig ist.

In der abgelaufenen Wahlperiode beschloss die Schweiz erstmals nach zwanzig Jahren eine Rentenreform. Sonst gelangen Bundesrat und Parlament keine grossen Würfe. Einverstanden?

Ja. Nicht einmal die Rentenreform ist ein grosser Wurf. Fairerweise muss man sagen, dass die Legislatur im Zeichen von Covid stand. Und im internationalen Vergleich ist die Schweiz gut durch die Pandemie gekommen.

Welches sind für Sie die drei grössten Baustellen?

Weder in der Klimapolitik noch im Verhältnis zur Europäischen Union noch in der Sicherung der Sozialwerke angesichts der Alterung der Bevölkerung sind wir einen wesentlichen Schritt weitergekommen.

Wenn Sie eine Liberalismus-Note vergeben könnten: Welche Note geben Sie dem Parlament und dem Bundesrat für die abgelaufene Wahlperiode?

Als Denkfabrik versuchen wir, in grossen Bögen zu denken und ideale Lösungen zu finden. Diese werden dann im politischen Prozess zermalmt. Insofern ist man hier als Liberaler immer etwas unzufrieden.

Dieses Interview ist im «Tages-Anzeiger» vom 11. November 2023 erschienen.