Die Konjunkturperspektiven trüben sich zusehends ein. Preisanstiege und die Energiekrise belasten die Aussichten und machen den hiesigen Unternehmen zu schaffen. In solchen Zeiten gilt es, die Stärken unseres Landes nicht zu unter­minieren. Dazu zählt der (noch) relativ liberale Arbeitsmarkt und die traditionelle Sozialpartnerschaft. Diese ermöglichen der Schweizer Volks­wirtschaft, sich an wirtschaftliche Schocks sowie auch an strukturelle Verände­rungen best­möglich anzupassen. Doch es besteht eine wachsende Bereitschaft, von staatlicher Seite in die Lohnbildung einzugreifen:

  • Branchenweite Mindest­löhne: In immer mehr Branchen werden auf Bundes- oder Kantonsebene Gesamtarbeitsverträge (GAV) allgemeinverbindlich erklärt.
  • Flankierende Massnahmen: Die grenzüberschreitende Dienstleistungs­erbringung aus EU/Efta-Ländern wird durch Lohnstandards ein­geschränkt und durch eine umfassende staatliche Kontrollbürokratie flankiert. Obwohl die Massnahmen das EU-Dossier blockieren, wird sogar ein Ausbau gefordert.
  • Kantonale Mindestlöhne: Seit das Schweizer Stimmvolk 2014 einem nationalen Mindestlohn eine deutliche Absage erteilte, wurden Mindestlöhne in fünf Kantonen eingeführt.

Inklusive Normalarbeitsverträge und kantonale Mindestlöhne dürften geschätzte 55 bis 60% der Arbeitnehmenden in einem Arbeitsverhältnis mit Lohnuntergrenze stehen.

Warum der Staat auf Lohnpolitik verzichten kann

Wie diese Publikation aufzeigt, ist es fraglich, ob ein starker bzw. noch stärkerer Lohnschutz wirklich den Arbeitnehmenden zugutekommt. Die wichtigsten Erkenntnisse der Studie im Überblick:

  • Zwischen 2008 und 2020 sind die tiefsten 10% der Löhne in der Schweiz um fast 12% angestiegen. Die Löhne der 10% am besten Verdienenden legten gleich stark zu; die Lohnschere öffnet sich nicht. Die Löhne der Niedrigqualifizierten sind sogar stärker gestiegen als jene der Hochqualifizierten.
  • Fast jeder zweite Arbeitnehmer ist einem GAV mit Mindestlohn unterstellt. Allerdings sind GAV-Mindestlöhne oftmals kaum «bindend»: Im Bauhauptgewerbe erhalten 98% der Arbeitnehmenden eine höhere Entschädigung als den ausgehandelten Mindestlohn.
  • Europäische Kurzaufenthalter leisten weniger als 1% des Schweizer Arbeits­volumens. Dies relativiert die Bedeutung des Lohn­schutzes. Es gibt zudem keine Hinweise darauf, dass Kurz­auf­enthalter hierzulande zu Arbeits­platz­verdrängung oder Lohndruck führen.
  • Kantonale Mindestlöhne schwächen das sozial­partner­schaftliche Modell und führen zu Doppelspurigkeit sowie Rechts­unsicherheit.
  • Mindestlöhne taugen nicht als sozialpolitisches Instrument: Neun von zehn Armuts­betroffenen sind nicht oder nur Teilzeit erwerbstätig. Für die wirtschaftliche Situation ist zudem die Haushaltsperspektive entscheidend. Und da zeigt sich: In den Haushalten der oberen Einkommensklassen kommen tiefe Löhne gleich oft vor wie in den Haushalten der unteren.

Die tiefen Löhne sind heute umfassend geschützt. Die Angst vor Lohndruck im Zuge der Personenfreizügigkeit mit der EU war ungerechtfertigt. Aus der gegenwärtigen Situation und der Lohnentwicklung lässt sich infolgedessen kein allgemeiner Regulierungsbedarf ableiten.

Empfehlungen von Avenir Suisse

Die hohen Schweizer Löhne sind nicht dem Lohnschutz geschuldet. Sie fussen auf anderen Faktoren – u.a. auf einem flexiblen Arbeitsmarkt mit bewährter Sozialpartnerschaft. Mit den folgenden Empfehlungen bleibt der Arbeitsmarkt in Sachen Lohnfestsetzung flexibel und trägt weiterhin zum «Erfolgsmodell Schweiz» bei:

  • Die bewährte Lohnpolitik im Rahmen der Sozialpartnerschaft sollte nicht weiter ausgehöhlt werden. Es ist davon abzusehen, mit staatlichem Gütesiegel verbindliche Lohnbedingungen für immer mehr Branchen zu diktieren.
  • GAV-Mindestlöhne müssen Vorrang vor kantonalen Mindest­lohn­bestimmungen haben. Diese Einsicht sollte sich ohne bundesrechtliche Vorgaben durchsetzen.
  • Auf eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen ist zu verzichten. Mittelfristig ist ein sukzessiver Abbau der Massnahmen anzustreben. Gerade in Zeiten des Arbeits­kräfte­mangels ist die grenzüberschreitende Dienst­leistungserbringung als Chance und nicht als Gefahr für den Arbeitsmarkt zu sehen.
  • Armutsbekämpfung sollte zielgerichtet über bedarfsorientierte Sozialtransfers und nicht über Eingriffe in die Lohnbildung erfolgen.

Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik muss darum besorgt sein, produktive Arbeitsplätze zu schaffen und eine hohe Arbeitsmarktpartizipation zu erreichen. Ein starker Lohnschutz trägt kaum zu diesen Zielen bei. Er belastet stattdessen den Faktor Arbeit direkt (Mindestlöhne) oder indirekt (administrative Hürden) und kann so zu geringeren Löhnen und weniger Beschäfti­gung führen. Damit untergräbt der «neue Lohnschutz» das Fundament des Schweizer Erfolgsmodells.