Unserem Land geht es (noch) gut. Wichtige Zukunftsfragen werden jedoch kaum thematisiert. Wir sollten uns demnächst entscheiden, welchen Weg wir gehen möchten. Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Die Schweiz weist in Sachen Wohlstand und Lebensqualität global einen der höchsten Werte aus. Offenheit und Aussenwirtschaftsbeziehungen tragen entscheidend zum allgemeinen Wohlstand in unserem Land bei. Der Wohlstand ist heute so gleichmässig verteilt wie kaum in einem anderen Land der Welt. Jede Schweizer Generation ist heute besser gestellt als die vorangehende. So sind die Einkommen der 18- bis 35-Jährigen im Jahr 2015 rund 6 % höher als knapp zehn Jahre zuvor. Und bemerkenswert angesichts der hitzig geführten Rentenreformdiskussion: Die Gruppe der 65- bis 75-Jährigen verzeichnete 2015 rund 11% höhere Einkommen als jene, die 2007 in diesem Alter waren.

Wirtschaftshistorisch ist die Sachlage eindeutig: Bereits 1848, nach Errichtung des Bundesstaates, nahmen weitreichende internationale Verflechtungen rasant an Fahrt auf. Mit der Annahme der total revidierten Bundesverfassung 1874 war eine beschleunigte Internationalisierung zu beobachten. In dieser Phase, von den Historikern als erste Globalisierungswelle bezeichnet, war die Schweizer Wirtschaftsstruktur gekennzeichnet von einer ausgeprägten Weltoffenheit. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wies die Schweiz nach den Niederlanden die höchste Exportorientierung in Europa aus. Entsprechend rasant stieg das Wohlstandsniveau. Alleine von 1877 bis 1913 nahm das Pro-Kopf-Einkommen um beinahe den Faktor 2,5 zu. Die Schweiz stieg zu einer der wohlhabendsten Nationen der Welt auf. Von dieser Basis zehren wir bis heute.

Wachstumsmotor stottert

Zwar wurde die Schweiz auch nach dem Zweiten Weltkrieg wohlhabender, doch der Vorsprung gegenüber anderen Ländern konnte immer weniger gehalten werden. Die Periode von 1950 bis 1973 brachte zwar nochmals eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens. Die Schweiz befand sich aber im Gegensatz zum 19. Jahrhundert nicht mehr an der Wachstumsspitze, sondern im Schlepptau der Nachbarländer. Und seit den 1990er-Jahren ist sogar ein relatives Zurückfallen zu beobachten. Die Periode von 1990 bis 2017 ist gesamthaft eine wachstumsschwache Zeit, die nur gerade von der Frühphase der bilateralen Verträge mit der EU in den Jahren 2003 bis 2008 durchbrochen wurde. Diese ökonomische Datenreihe entspricht aber nicht dem Selbstbild der Schweiz als «Insel der Glückseligen» – unser Land unterliegt offenkundig einer kollektiven Selbsttäuschung.

Die Schweiz unterliegt einer kollektiven Selbsttäuschung. (Wikimedia Commons)

Seit den 1990er Jahren entwickelt sich die Arbeitsproduktivität der Schweiz noch schwächer als im Ausland, das Wohlstandsniveau konnte in den vergangenen Jahrzehnten nur erhalten werden, indem wir viel, aber nicht sonderlich effizient arbeiten. Doch diese Strategie wird auf Dauer nicht aufgehen. Bereits 2016 sind aufgrund der demografischen Entwicklung erstmals mehr inländische Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden als nachgerückt. 2016 ist auch das Jahr, in dem fast ein Fünftel der Schweizer Unternehmen Schwierigkeiten bei der Einstellung von Fachkräften bekundete. Bis 2035 wird der einheimische Arbeitsmarkt um eine halbe Million Menschen schrumpfen – nur mit Migration, der konsequenten Nutzung des einheimischen Arbeitskräftepotenzials mit Einführung der Individualbesteuerung und durch Anhebung des Rentenalters ist der zunehmenden und kostspieligen Suchdauer der Schweizer Unternehmen nach Fachkräften wirksam zu begegnen. Gefragt ist aber auch ein schnelleres Produktionswachstum.

Doch statt die Rahmenbedingungen für das Schweizer Wirtschaftssystem zu modernisieren, sind Verlangsamungen, wenn nicht gar Symptome von Paralyse bei den notwendigen strukturellen Erneuerungen festzustellen. Alleine von 2013 bis 2017 stimmte der Souverän über gesamthaft 18 Vorlagen ab, die die marktwirtschaftliche Ordnung stark tangierten. Wichtige Reformen – Stichworte wie kompetitive Unternehmensbesteuerung und finanzierbare Altersvorsorge – haben in der Schweizer Gesellschaft einen zunehmend schweren Stand. Entscheidende Zukunftsfragen werden nicht thematisiert, Verteilkämpfe dominieren den öffentlichen Diskurs. Zugleich befindet sich die Welt in Umbruch, sie ist multipolar und damit auch unübersichtlicher geworden, was hierzulande wiederum Abwehrreflexe auslöst. Der mentale Rückzug in die geordneten Verhältnisse des Kleinstaates wird als Losung herausgegeben. Die Gestaltung des Verhältnisses zu unserem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, der Europäischen Union, polarisiert. Ein Status-quo-Denken herrscht vor, obwohl sich der europäische Binnenmarkt dynamisch weiterentwickelt. Der um sich greifende Reformstillstand und das ungeklärte Verhältnis zu Europa hemmen die Weiterentwicklung des allgemeinen Wohlstands.

Zukunftsfähige Lösungen gefragt

Die Schweiz muss sich entscheiden, welchen Weg sie in naher Zukunft beschreiten will. Nachhaltige Prosperitätssicherung im Aussenverhältnis gelingt nur, wenn sie die Spannungsverhältnisse zwischen Teilnahme am Weltmarkt (via Freihandelsabkommen) sowie vollständiger Teilnahme am europäischen Binnenmarkt und formeller Souveränität, selbstständiger Migrationssteuerung und milliardenschwerer Agrarprotektion im Landesinnern offen anspricht. Die Diskursträgheit darf aber auch nicht zum vollständigen Erneuerungsstau im Innern führen. Eine generationengerechte, das heisst finanzierbare Vorsorge, die die demografische Entwicklung nicht negiert, ein Steuersystem, das die Schweiz als Sitz für multinationale Unternehmen nach wie vor attraktiv macht, und ein Bildungssystem, das bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen Vorreiter ist, sind gefragt. Ansonsten drohen noch mehr Verteilkämpfe und ein weiteres Stottern des Wachstumsmotors. Notwendig ist wieder ein vermehrtes Arbeiten an zukunftsfähigen Lösungen. Doch dazu muss die Schweiz in einem konstruktiven Diskurs zuerst eine Vorstellung ihrer Zukunft entwickeln.

Dieser Beitrag ist in der NZZ-Beilage zum Swiss Economic Forum am 8. Juni 2018 erschienen. Lesen Sie zum Thema Reformen auch das «Weissbuch Schweiz»