Max Webers These von der «Wahlverwandtschaft» zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus dürfte zu den am häufigsten zitierten – oder sollte man eher sagen: strapazierten? – Aussagen der Sozialwissenschaften gehören. Doch die feinen Verästelungen der christlichen Konfessionen sind seit dem erstmaligen Erscheinen des Werks des grossen Soziologen in zwei Teilen in den Jahren 1904 und 1905 längst in den Hintergrund gerückt. Zum einen beschäftigt in der globalisierten Welt eher, wie marktwirtschaftsfreundlich die verschiedenen Weltreligionen sind. Also etwa, ob der Islam und eine auf Privateigentum und Wettbewerb basierende Wirtschaftsordnung überhaupt zusammenfinden können. Oder wie sehr sich Hinduismus und Buddhismus an der Diesseitsorientierung der freien Wirtschaft reiben. Zum anderen stellt sich in einer Zeit, die zwischen religiösem Fundamentalismus und zunehmender Säkularisierung oszilliert, die Frage, welche harmonischen oder antinomischen Beziehungen ganz generell zwischen Religion und Wohlstand bestehen.

Kultur zählt

Auf letztere Frage liefert die wirtschaftspolitische Grafik dieses Monats zumindest einige vorsichtige Antworten. Sie ist der kleinen, lesenswerten Schrift «Die Religionsfreiheit in der Welt» von Detmar Doering, dem Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Potsdam, entnommen. Eindeutige Aussagen sind dagegen kaum möglich. Zum einen wird aufgezeigt, dass Wohlstand mit dem Grad der Religionsfreiheit einhergeht. Gemäss Doering werden Christen in 130 Ländern und Muslime in 117 Ländern verfolgt. Über die Verfolgung von Atheisten weiss man relativ wenig; dass auch sie existiert, ist indessen unzweifelhaft.

Die religiös unfreien Länder kommen auf ein Pro-Kopf-Einkommen, das deutlich weniger als einen Drittel des Pro-Kopf-Einkommens der freieren Länder ausmacht. Korrelationen sagen aber nichts über Ursache und Wirkung aus. Es könnte sein, dass Armut religiöse Unfreiheit hervorbringt, es könnte aber genauso sein, dass umgekehrt Armut eine Folge religiöser Unfreiheit ist. Letzteres würde dann zumindest der Grundidee nach der Weberschen These entsprechen, dass das religiöse Regime eben auch den wirtschaftlichen Erfolg bestimmt. Dafür sprechen einige Indizien. So wissen wir aus anderen Untersuchungen, dass es eine starke Korrelation zwischen Wohlstand und wirtschaftlicher Freiheit gibt. Die 25% der wirtschaftlich freiesten Länder sind zehnmal so wohlhabend wie das Viertel der Staaten, die besonders unfrei sind.

Freiheit schafft Wohlstand

Und hier ist die Ursache-Wirkungs-Kette ziemlich klar: Freiheit produziert Wohlstand. Da scheint es naheliegend, dass das auch für die religiöse Freiheit gilt. Dazu kommt, dass die religiös unfreien Länder in Sachen wirtschaftliche Freiheit wohl etwas, aber gar nicht so viel unter dem Durchschnitt liegen. Das könnte bedeuten, dass ihr schlechtes wirtschaftliches Abschneiden eben nicht nur mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusammenhängt, sondern ebenso oder fast noch mehr mit anderen, «weicheren» Faktoren wie der Religionsunfreiheit bzw. dem kulturellen Hintergrund, der in der religiösen Intoleranz seinen Ausdruck findet. Dazu passt, dass auch die Achtung der allgemeinen Menschenrechte und Wohlstand stark korrelieren.

Religion – ein Hemmschuh?

Noch offener ist die Interpretation der rechts liegenden Grafik. Sie zeigt, dass Gesellschaften mit einem sehr hohen Anteil von Menschen, die der Religion einen besonders wichtigen Platz in ihrem Leben einräumen, wirtschaftlich markant hinter wenig religiösen Gesellschaften zurückliegen. Es gibt also eine ausgeprägte umgekehrte Korrelation zwischen Religiosität und Pro-Kopf-Einkommen. Konservative Kulturpessimisten werden das wohl dahingehend interpretieren, dass ein hohes Wohlstandsniveau mit der Zeit den Glauben vertreibt, während an Karl Marx Geschulte mehr betonen werden, dass die Armut die Menschen Zuflucht beim «Opium des Volkes» suchen lässt. In beiden Fällen bestimmt aber das Sein das Bewusstsein.

Die anderen, säkularisierten Vertreter der Moderne werden sich eher in ihrer umgekehrten Sichtweise bestätigt sehen, nämlich dass Religion eine hemmende gesellschaftliche Kraft sein kann. Irritierend muss der Befund dagegen für jene sein, die mit Wilhelm Röpke und Ernst-Wolfgang Böckenförde der Meinung sind, dass eine offene Gesellschaft für ihr freiheitliches Funktionieren einen gewissen Kanon gemeinsamer Werte braucht und dass dazu Werteproduzenten «jenseits von Angebot und Nachfrage» nötig sind, also die Familien, die Schulen, aber eben auch die Kirchen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet möglicherweise die Tatsache, dass die hier präsentierten Daten nicht berücksichtigen, welcher Art die Religiosität ist. Ist sie intolerant und rückwärtsgewandt? Oder ist sie bei aller tiefen Überzeugung offen für andere Bekenntnisse bis hin zum Atheismus und Agnostizismus? Hier gäbe es noch einiges zu erforschen.

Und es würde nicht überraschen, wenn sich zeigen würde, dass zwar eine mit kämpferischem Anti-Säkularismus gepaarte Religiosität den Wohlstand, die Rechtssicherheit, die Freiheit und damit à la longue sich selbst gefährdet, dass aber eine nicht zuletzt auch gegenüber Areligiösen tolerante Religiosität sehr wohl einen Beitrag zu einem Zusammenleben in Selbstbestimmung, Würde und Wohlstand leisten kann.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. November 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.