Kürzlich hat Monika Bütler die Familienkatze in den Titel ihrer – wie immer äusserst lesenswerten – Kolumne in der «NZZ am Sonntag» gesetzt. Auch dieser Text soll mit einer Katze beginnen, und zwar jener aus dem Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger. Die ist bekanntlich gleichzeitig tot und lebendig. An diesen zweideutigen Zustand fühlt sich erinnert, wer die Berichte der letzten Tage zur Credit Suisse verfolgt hat: Die Schweizer Grossbank war offenbar gleichzeitig abwickelbar und nicht abwickelbar. Was ist damit gemeint?

Einige Experten haben in ihrem Rückblick auf die Ereignisse festgehalten, dass die Abwicklung der Grossbank, das heisst die geordnete Sanierung oder Liquidation ohne Notrecht und Staatsgarantien, funktioniert hätte. Die Credit Suisse war also abwickelbar. Dieser Einschätzung zum Trotz wurde aber im März 2023 eine notrechtliche Fusion mit der UBS mit Staatsgarantien in Milliardenhöhe beschlossen. Die Credit Suisse war also nicht abwickelbar.

Die Katze des Physikers Erwin Schrödinger ist gleichzeitig tot und lebendig. Die Credit Suisse war offenbar gleichzeitig abwickelbar und nicht abwickelbar. (Adobe Stock)

Um diese Zweideutigkeit zu verstehen, muss zwischen der Ebene des Instituts und jener des Systems unterschieden werden. Auf der Ebene des Instituts wurden im Nachgang der Finanzkrise von 2008 unzählige Massnahmen getroffen, die eine geordnete Abwicklung ermöglichen sollten. Jene Experten, die sich darauf berufen, dass die Credit Suisse abwickelbar gewesen sei, fokussieren auf diese individuelle Ebene.

Anders sieht es auf der Ebene des Systems aus. Hier geht es um die Frage, wie sich eine Abwicklung auf die Wirtschaft als Ganzes auswirkt. Viele Ökonomen sind sich einig, dass auch eine gut vorbereitete Abwicklung eines grossen Finanzinstituts Schockwellen im Finanzsystem verursachen würde. Das gilt in besonderem Masse für die geordnete Liquidation, aber auch für die Sanierung. Der Grund liegt in der finanziellen Vernetzung.

So würden gewisse Verbindlichkeiten einer Bank in Abwicklung unmittelbar an Wert verlieren – etwa die sogenannten Instrumente der Gläubigerbeteiligung. Das bedeutet, dass jemand direkt Verluste erleidet. Denn jede Verbindlichkeit hat eine Gegenpartei, die das entsprechende Papier in ihren Büchern als Forderung hält. Sollte eine solche Gegenpartei deswegen in Schieflage geraten, gibt sie den Schock wiederum an ihre eigenen Gegenparteien weiter. Die Situation erinnert an umkippende Dominosteine.

Dieser Erstrundeneffekt wird zu Zweitrundeneffekten führen. Niemand weiss nämlich genau, wer welche Verluste erleidet. Die Unsicherheit im Finanzsystem wird zunehmen und der damit einhergehende Verlust von Vertrauen das Verhalten verändern: Für das Verleihen von Geld werden plötzlich mehr Sicherheiten und höhere Zinsen verlangt. In der Folge kommen auch Finanzinstitute unter Druck, die keine direkten Verbindungen zur ursprünglichen Bank haben – etwa, wenn sie Wertpapiere mit fallenden Preisen halten und verkaufen müssen. Das wird die Unsicherheit im Finanzsystem weiter erhöhen.

Diese systemischen Effekte einer geordneten Abwicklung sind nicht zu unterschätzen. Sie waren letztlich der Grund dafür, dass 15 Jahre nach der letzten Finanzkrise trotz anderslautenden Versprechen wieder Notrecht und Staatsgarantien zum Zug kamen. Grosse und vernetzte Finanzinstitute können aus individueller Sicht also abwickelbar sein, gleichzeitig aus Systemsicht aber nicht – im März 2023 war es weniger Eschers als eher Schrödingers Credit Suisse.

Der Blick in die Geschichte lehrt, dass diese Situation alles andere als aussergewöhnlich ist. Ökonomen haben die Regulierung bereits nach 2008 als zu mikrobasiert kritisiert. Das umfassende Regelwerk noch mehr auszubauen, wird dieses fundamentale Problem nicht lösen. Der heutige Regulierungsansatz kann Kettenreaktionen auf der Ebene des Systems nicht verhindern.

Die Abwicklungsfähigkeit muss also auf makroökonomischer Ebene sichergestellt werden. Ein Paradigmenwechsel in der Regulierung tut not. Eine Möglichkeit wäre das vom Autor dieser Kolumne mitentwickelte Konzept der systemischen Solvenz, das sicherstellt, dass die «Dominosteine» im System genügend weit auseinander stehen. Ein solches regulatorisches Umdenken ist aber nur international koordiniert möglich, da finanzielle Schockwellen nicht an den Landesgrenzen stoppen.

Parallel zu solchen Bestrebungen drängt sich deshalb auf nationaler Ebene eine Adaptionsstrategie auf. Politisch und regulatorisch sollte sichergestellt werden, dass Teile der hiesigen Kredit- und Zahlungssysteme sowie die Währungsordnung widerstandsfähig gegen Kettenreaktionen sind. Sind sie das nicht, droht dem Land nach 2008 und 2023 schon bald der nächste Katzenjammer.

Dieser Beitrag ist in der «NZZ am Sonntag» vom 24. März 2024 erschienen.