Der steile Weg zum Schuldenabbau

Fast könnte man meinen, die Konjunktur habe etwas mit den Jahreszeiten zu tun: Pünktlich zum Frühlingsanfang verbreiten Wirtschaftsauguren einen Hauch von Zuversicht. 2012 werde, so heisst es, besser ausfallen als erwartet. Das mag so sein. Und obwohl alle wissen, dass Konjunkturprognosen etwa genauso oft falsch wie richtig liegen, klammern sich viele an diesen Strohhalm. Doch die Wirtschaftsprobleme, mit denen zumal die reicheren Länder und ganz besonders jene in Europa kämpfen, haben schon lange nicht mehr allein mit der Konjunktur zu tun.

Leben auf Pump

Die Schuldenkrise Europas ist Ausdruck einer tiefgreifenden Strukturkrise. Europa hat in keynesianisch inspirierter Verblendung (und nicht in «neoliberalem »Wahn) seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse gelebt. Es hat nicht bloss Schulden gemacht, um für die Zukunft zu investieren, es hat sich auch nicht bloss vorübergehend verschuldet, um einen Wirtschaftseinbruch zu verhindern. Europa hat in grossem Stil auf Kosten künftiger Generationen konsumiert – während Jahrzehnten.

Als dann zusätzlich die Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise anstand und diese nur über eine weitere, massive Aufblähung der Schulden möglich schien, trat die Liederlichkeit bisheriger Finanzpolitik zutage. Die Staaten haben es sich längst abgewöhnt, sich wie ein guter Hausvater zu verhalten, sich also für sinnvolle Investitionen zu verschulden, aber auch wieder anzusparen, um für widrige Zeiten gerüstet zu sein. Das Leben auf Pump wurde zur Normalität, so sehr, dass man heute in Erinnerung rufen muss: Es war nicht so, dass die Bekämpfung der Finanzkrise die Schulden explodieren liess. Sie verschlimmerte lediglich eine schon zuvor nicht nachhaltige Situation.

In Japan, Griechenland, Italien, Belgien, Frankreich, den USA, Deutschland oder Kanada, um nur einige Länder herauszugreifen, hat die Bruttoverschuldung der öffentlichen Haushalte schon 2007 das Maastricht-Kriterium von 60% des Bruttoinlandprodukts (BIP) missachtet, zum Teil deutlich. Aber die Politik wurstelte sich durch und gaukelte den Bürgern etwas vor.

Manchmal hilft es, die Dimensionen eines Problems zu erkennen, indem man sich überlegt, was geschehen müsste, um sich aus dem Schlamassel zu befreien. Die wirtschaftspolitische Grafik dieses Monats zeigt für mehrere Staaten, um wie viel diese die Einnahmen Jahr für Jahr über den Ausgaben (ohne Zinszahlungen) halten müssten, nur um die Schulden wieder auf das Niveau von vor der Krise oder gar auf die Vorgaben von Maastricht zu drücken. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von Primärbudget-Überschuss bzw. von einem positiven Primärsaldo. Dabei ist anzumerken, dass das Maastricht-Niveau (und erst recht das Vorkrisen-Niveau) keineswegs einen Idealzustand darstellt – man muss es eher als eine Art Tragbarkeitsgrenze verstehen. Um dieses Niveau innert zehn Jahren zu erreichen, müsste Frankreich jährlich einen Primärbudget-Überschuss von rund 3% des BIP erzielen. Das mag nach nicht sonderlich viel tönen. Es ist aber mehr, als westliche Volkswirtschaften seit langem an Wachstum erzielen. Bezogen auf den Staatshaushalt (die Staatsquote liegt in Frankreich bei gut 55%), müssten die Einnahmen etwa 5% höher liegen als die Ausgaben – Jahr für Jahr. Dazu kommt, dass sehr viele der hochverschuldeten Staaten in den letzten Jahren Primärdefizite schrieben, keine Überschüsse. Entsprechend weit oder steil ist der Weg zum Schuldenabbau.

Wollte man etwas rascher, nämlich schon innert fünf Jahren, zur Tragbarkeit zurückkehren, müssten die Überschüsse rund doppelt so hoch sein. Für die Sorgenkinder Portugal, Italien und Griechenland sind die Überschuss-Erfordernisse geradezu gigantisch. Man kann sich jedenfalls nicht vorstellen, dass Griechenland während zehn Jahren Primärbudget-Überschüsse von 14% erzielt. Das bedeutet bei einer Staatsquote von gut 50% nämlich, dass Überschüsse im Umfang von einem Viertel des Staatshaushaltes erreicht werden müssten. Die Berechnungen des erforderlichen Primärsaldos basieren ferner auf einer weitgehend überraschungsfreien Welt, ohne Katastrophen, Krisen und Kriege, sowie der Erwartung eines durchschnittlichen jährlichen Realwachstums von etwas über 2%. Das ist eine heroische Annahme.

Musterknabe Schweiz

Gewiss, die Wirtschaft könnte auch stärker wachsen, und dann sähe alles besser aus. Doch gleichzeitig sollte man sich mit Olivier Blanchard oder Charles B. Blankart bewusst sein, dass ein hochverschuldeter Staat aufgrund der Zinszahlungen selbst bei einem ausgeglichenen Primärbudget weitere Schulden aufbaut. Es braucht also das Wirtschaftswachstum oft nur schon, um die Schuldenquote konstant zu halten.

Die Schweiz ist auch in diesem Kontext in Europa eine Ausnahmeerscheinung. Sie hat zwischen 2005 und 2009 Primärbudget-Überschüsse erzielt; um auf das Maastricht-Niveau zu kommen, müsste sie in den nächsten fünf bzw. zehn Jahren nicht Überschüsse, sondern Defizite schreiben. Sie gehört ja zu den wenigen Staaten, deren Verschuldung derzeit unter 60% liegt. In der EU zählen nur die Mehrheit der osteuropäischen Staaten sowie Schweden, Dänemark, Finnland und Luxemburg zu diesem Klub der fiskalischen Solidität. Auf der anderen Seite belegt Japan, wie lange man mit einer gewaltigen Schuldenlast halbwegs überleben kann. Doch davon sollten sich europäische Politiker nicht beeindrucken lassen. Sie werden die fiskalische Konsolidierung anpacken müssen. Und dieser Prozess wird schmerzhaft und langwierig sein.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 31. März 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.