Nicht nur in Amerika braucht die Politik Zukunftsglauben und Optimismus (Bild: Wikimedia Commons, by Sage Ross)

Nicht nur in Amerika braucht die Politik Zukunftsglauben und Optimismus (Bild: Wikimedia Commons, by Sage Ross)

Sowohl in der politikwissenschaftlichen als auch in der historischen Forschung stehen seit einiger Zeit vermehrt die Bedeutung und Rolle von Narrativen im Zentrum von Überlegungen. Es wird anerkannt, dass sich die Menschen gerade in der Politik nicht in einem «Marktplatz der Ideen», sondern vielmehr in einem «Marktplatz der Geschichten» bewegen.  Es sind Narrative, das «Storytelling», die den Menschen Politiken emotional näher bringen, und keine noch so eindeutig datenbasierte Evidenz oder eine reine Auflistung von Vorschlägen.

Was in den USA und immer mehr auch in europäischen Staaten Einzug gehalten hat und so zum professionellen Rüstzeug in der Politik gehört, steht in der Schweiz in den Anfängen. In der Schweiz fehlt noch oft die Einsicht in die Wichtigkeit und Rolle der Narrative in der Politik. Diese Einstellung verkennt aber, dass es eine Erzählung braucht, um klar zu machen, wohin man steuert. Narrative gehen weit über politische Begriffe oder Metaphern hinaus. Sie interpretieren Vergangenheit, um in der Gegenwart Zukunftswege zu beschreiben. Das müssen kongruente Geschichten sein, welche sinnbildend wirken und Orientierung bieten. Es geht um die Interpretation, woher ein Land kommt, wo es steht, und welche Zukunft es ansteuern sollte. Mit noch so klugen Argumenten und Daten erzeugt man keine Meinungsführerschaft, wenn sie keine Leidenschaften aktivieren, keine Geschichte erzählen und keine Hoffnungen wecken.

Politik kann als Kampf um das vorherrschende nationale Selbstverständnis  beschrieben werden. Es geht darum, welches Bild hegemonial wirkt. In der Schweiz ist der Kampf der Parteien um dieses vorherrschende nationale Narrativ nicht sehr intensiv, ja er wird kaum geführt. Die einzige Partei, welche sich in gewisser Weise auf diesem Terrain bewegt, ist die SVP. Sie führt im Wesentlichen das nationale Narrativ fort, dass nach dem Weltkrieg erzählt worden ist und das bis 1989 eine gewisse Glaubwürdigkeit aufwies. Es ist dies das Bild einer widerständigen Schweiz, die – ungeachtet ihrer Umgebung –  einen Sonderfall darstellt, wo alles zum Besten bestellt ist, solange die äusseren Einflüsse minimal bleiben. Interessant ist, dass die anderen Parteien und auch der Bundesrat diesem Bild kein eigenes Narrativ entgegensetzen können oder wollen. Es fehlt eine Erzählung wider den angsterfüllten Konservatismus. Ein Pol, der neue Perspektiven eröffnet.  Eine Schweiz, die vorwärtskommen und innovativ sein will.

Verschiebungen im Grundnarrativ

Im Streit um die SVP-Masseneinwanderungsinitiative resp. die Personenfreizügigkeit mit der EU  spiegelt sich der angesprochene Befund ausgeprägt. Politiker aller Lager, und zwar nicht nur des Ja- sondern genauso des Nein-Lagers, beklagen im Moment den «Dichtestress». Dieses Narrativ ist zu einer Mainstream-Erzählung geworden. Nicht von ungefähr stellt das Gfs-Institut in der neusten Umfrage fest, dass nunmehr 65% der Aussage «Die unkontrollierte Zuwanderung führt zu Lohndruck, Wohnungs-und Verkehrsproblemen» zustimmen.

Dieser Wandel ist bemerkenswert. Immerhin haben noch 2009 60% der Stimmbevölkerung der Weiterführung der Personenfreizügigkeit inklusive der Erweiterung auf Rumänien und Bulgarien zugestimmt. Hat sich in den letzten vier Jahren in der konkreten Realität wirklich so viel verändert? Oder hat sich das Narrativ in den Köpfen geändert? Das würde nicht überraschen. Wenn man zurzeit die Diskussionen der politischen Meinungsführer verfolgt, würde man fast meinen, dass heute ein sehr immigrationskritisches Lager einem immigrationsskeptischen Lager gegenübersteht. Die Parole des Nein-Lagers lautet in der Substanz gegenüber dem Ja-Lager: «Ihr habt mit Eurem Narrativ recht, stimmt bitte doch aber trotzdem mit Nein, sonst herrscht Unsicherheit.»

Wie auch immer die Abstimmung ausgeht: Das zentrale Phänomen ist die Verschiebung des Grundnarrativs bei den Meinungsführern. Zu wenige stehen noch überzeugt für das Prinzip der Personenfreizügigkeit ein, für die Offenheit als Grundpfeiler des Erfolgs. Im Vergleich mit den 1990-er Jahren und auch mit dem Jahr 2009 läuft die Wirtschaft auf Hochtouren, und die Perspektiven für die nächsten zwei Jahre scheinen exzellent. Kümmern wir uns darum ausschliesslich um den «Dichtestress»? Liegt es am Zeitgeist? Oder am politischen Personal?

Der SVP kann diese Änderung des Mainstreams nur recht sein. Es ist Wasser auf die Mühlen ihres nächsten Wahlkampfs. Die anderen drei grossen Parteien sind im Clinch, die Voraussetzungen für eine optimistische, zukunftszugewandte Erzählung in dieser Sache können oder wollen sie wohl nicht erfüllen: Der FDP-Präsident, Urheber der 18%-Initiative, wird nie glaubwürdig ein anderes Narrativ in die Wege leiten können. Der SP-Präsident missbraucht die Personenfreizügigkeit nur für taktische Verrenkungen, der an das Wallis denkende CVP-Präsident versucht die konservativen Wähler nicht zu vergraulen. Und die Zeitungen reisen dem Medianwähler nach und verändern ihre Geschichten marktgerecht immer mehr in Richtung SVP.

Es ist Zeit für ein kraftvolles, zukunftsgerichtetes Narrativ für die Schweiz.  Und es wäre Aufgabe der Politik, sich an diese Erzählung zu machen.