In einer Welt, die derzeit vor allem durch Wandel statt Stabilität gekennzeichnet ist, sind Standortbestimmungen eine hilfreiche Sache. Auch für Staaten. Die aussenpolitische Aula in Bern suchte zu ergründen, wo die Schweiz in ihrem Verhältnis zur Europäischen Union zurzeit steht und welche Optionen sich ihr für die nähere Zukunft (noch) bieten.

Nach einem Eingangsreferat mit quantitativen Fakten zur bilateralen Wirtschaftsbeziehung von Avenir-Suisse-Forschungsleiter Patrick Dümmler diskutierte Markus Mugglin von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik mit Nationalrätin Christa Markwalder, der Europarechtsprofessorin Astrid Epiney sowie mit Daniel Binswanger, Redaktor des Online-Magazins «Republik».

Plädoyer für eine «Koalition der Vernunft»

Zu Beginn der Veranstaltung spiegelten die Positionsbezüge eine überraschend grosse Übereinstimmung. Es brauche nun eine «Koalition der Vernunft», sei doch ein Hinauszögern der Entscheidung zum Rahmenabkommen eine riskante Strategie.

Daniel Binswanger, Christa Markwalder, Astrid Epiney, Markus Mugglin (v.l.n.r.). (Aula)

Wieviel auf dem Spiel steht, illustrieren folgende Zahlen: 53% des Schweizer Aussenhandels werden mit der EU abgewickelt, ein Grossteil davon wiederum mit den unmittelbaren Grenzregionen zur Schweiz. Rund 860’000 Beschäftigte profitierten im Jahr 2016 direkt vom Export in den EU-Binnenmarkt, dies entspricht knapp jedem fünften Arbeitsplatz in der Schweiz. Die Podiumsteilnehmer konstatierten, dass die EU-Frage im Wahlkampf trotzdem weitestgehend ignoriert wurde.

Daniel Binswanger attestierte dem Land in dieser Frage gar eine «Narkolepsie». Christa Markwalder stellte diplomatisch fest, dass ein Grossteil der Bevölkerung den Wert der Bilateralen immer noch zu schätzen wisse, und dass sich die Schweiz – im Unterschied zum Vereinigten Königreich – immerhin nicht in einer Kampfscheidung mit der EU befinde, sondern nur versuche, ihr Konkubinat auf eine dauerhafte Basis zu stellen.

Zankapfel Personenfreizügigkeit

Offene Wunden wurden erst ersichtlich, als die Diskussion auf die Personenfreizügigkeit schwenkte. Daniel Binswanger verteidigte die Gewerkschaften, die eine Verwässerung der Flankierenden Massnahmen (FlaM) befürchten und deshalb auf den Lohnschutz fokussieren, der gemäss Binswanger auch vom Bundesrat früher immer als «rote Linie» verteidigt wurde. Nicht zuletzt dank den FlaM sei die Lohnentwicklung in der Schweiz in den letzten Jahren gleichförmiger verlaufen als in vielen anderen EU-Ländern. Deshalb brauche es einen «Grand Bargain», einen Deal, mit dem alle Sozialpartner leben könnten.

Patrick Dümmler. (Aula)

Die Bedeutung der FlaM stellte auch Christa Markwalder nicht in Abrede. Sie forderte aber deren Anpassung an das digitale Zeitalter, in dem eine Acht-Tage-Regel zur Voranmeldung für ausländische Firmen sehr wohl durch Einsatz technischer Hilfsmittel halbiert werden könne.

Astrid Epiney plädierte in der Diskussion um das Entsenderecht für mehr Kreativität auf Schweizer Seite. Im EU-Recht, bzw. im Entwurf des Institutionellen Abkommens spreche zum Beispiel grundsätzlich nichts gegen eine engmaschige Kontrolle der Entsendearbeiten durch die Schweiz. In Bezug auf das Streitbeilegungsverfahren sei eine gewisse Gelassenheit das richtige Rezept. Man könne nicht alle erdenklichen Szenarien vorgängig in einem Vertrag abdecken. Ausserdem bleibe Zeit für Diskussionen, denn ein Verfahren vor dem Schiedsgericht, das gegebenenfalls den EuGH befassen würde, werde mehrere Jahre dauern.

Soweit die Befassung des EuGH durch das im Entwurf vorgesehene Schiedsgericht betroffen ist, ähnele das Verfahren dem sogenannten Vorabentscheidungsverfahren in der Union, in dessen Rahmen im Gefolge eines Urteils des EuGH mitunter ein grosser Spielraum bei der genauen Anwendung auf den Einzelfall bleibt, der vom Schiedsgericht ausgenutzt werden könnte. Auch für den Fall, dass die Schweiz vor dem Schiedsgericht einmal unterläge, sei dann jeweils nach den genauen Implikationen zu fragen. Generell sei zu bemerken, dass entgegen der Vorstellung vieler der bilaterale Weg nicht unilateral ausgehandelt werden könne.

Plan B – oder C?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Beziehungsstatus Schweiz–EU bleibt «kompliziert». Damit die Bedeutung der Bilateralen und ihr Erhalt wieder in den Vordergrund der politischen Diskussion rücken, braucht es aber eine bessere Kommunikation. Zum Beispiel über die zahlreichen Schweizer Verhandlungserfolge, die das Rahmenabkommen enthält: Dazu gehörten die dynamische (statt automatische) Rechtsübernahme genauso wie die Tatsache, dass die Unionsbürgerrichtlinie – entgegen den ursprünglichen Absichten der EU – explizit nicht Teil des Abkommens sei.

Abschliessend wurde die Dringlichkeit einer Lösung betont. Der Erfolg von Nachverhandlungen sei keineswegs gesichert, während bestehende Teile der Bilateralen dringend aktualisiert werden sollten. Nach dem gescheiterten Plan A – dem Beitritt zum EWR im Jahr 1992 – hat die Schweiz sehr erfolgreich den Plan B – die Bilateralen – gelebt. Und solange es noch keinen konkreten und mehrheitsfähigen Plan C gibt: Wäre es da nicht besser, das Bestehende weiterzuentwickeln?