Der innenpolitische Reformstau und die Klärung der Beziehung mit der EU als wichtigstem Handelspartner fordern ihren Tribut. Die Schweiz befindet sich an einem Scheideweg. Angesichts der schon im Gang befindlichen Ausdünnung des Schweizer Arbeitsmarktes durch die Pensionierung der grossen Baby-Boomer-Jahrgänge muss die Schweiz ihre Ressourcen effizienter einsetzen. Ohne ein schnelleres Produktivitätswachstum wird die demografische Alterung nicht ohne Wohlstandseinbussen zu bewältigen sein. Darum ist der Status quo keine zukunftsfähige Alternative mehr, das Land braucht Bewegung. Um darüber ehrliche und konstruktive Diskussionen zu führen, braucht es eine Vorstellung darüber, welche Vorteile die möglichen Wege der Schweiz mit sich bringen, aber auch welchen Preis wir jeweils dafür bezahlen. Dieser Beitrag erläutert die wichtigsten ökonomischen Implikationen der sechs Szenarien und zeigt auf, was sich aus ökonomischer Perspektive im Vergleich zum Status quo konkret verändern würde.
Selbstbestimmter Rückzug
Die Kündigung der Bilateralen Verträge und die starke Abkapselung vom Rest der Welt führt zu einer zurückgezogenen, nach innen gerichteten Schweiz im Jahr 2030. Mit dem Verlust des direkten Marktzugangs in den EU-Binnenmarkt wird der Export erschwert und die Exportwirtschaft deutlich geschwächt. Gleichzeitig haben Firmen aufgrund der restriktiven Zuwanderungspolitik kaum mehr Zugang zu ausländischen Fachkräften, was zu Auslagerungen oder Abwanderung von Firmen führt. Der zusätzlich aufgebaute Schutz für die Binnenwirtschaft behindert das Wachstum der Produktivität. Diese Entwicklungen führen dazu, dass sich sowohl das Pro-Kopf-Wachstum als auch die Beschäftigung im Vergleich zum Status quo deutlich schwächer entwickeln. Die teilweise Abschottung der Schweiz bedeutet auch eine Schwächung des Schweizer Frankens. Er büsst an Attraktivität als Anlagewährung ein, sodass sein Aussenwert sinkt. Frau Schweizerin und Herr Schweizer verfügen aufgrund des schwächeren Frankens und der unter Druck gekommenen Löhne über weniger Kaufkraft im Ausland. Das ausbleibende Wachstum nährt politische Verteilkämpfe. Dieser Entwicklung wird mit mehr staatlicher Umverteilung – und entsprechendem Anstieg der Fiskalquote – entgegnet, sodass sich die Verteilung der Einkommen im Vergleich zu heute kaum merklich ändert.
Globale Oase
Die eigenständige Schweiz von 2030 nimmt zwar nicht mehr am EU-Binnenmarkt teil, führt aber weitgehende Liberalisierungen im Innern durch und vollzieht eine unilaterale Öffnung gegenüber vielen Ländern der Welt für Güter, Dienstleistungen und Arbeitskräfte. Dies lässt das Produktivitätswachstum und somit das Pro-Kopf-Wachstum und die Beschäftigungsmöglichkeiten stark ansteigen. Die unilaterale Öffnung ermöglicht es, die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften zu befriedigen: Die Zuwanderung steigt aufgrund des beschränkten inländischen Arbeitskräftepotentials im Vergleich zu heute stark an. Die Schweiz gewinnt für Investoren an Attraktivität und der Kapitalzufluss nimmt zu. Dadurch erhöht sich der Aussenwert des Frankens und die Schweizer Bevölkerung kann kaufkräftiger denn je ihre Einkünfte im Ausland ausgeben. Das Szenario würde in vielen Punkten eine Verbesserung gegenüber dem Status quo bedeuteten, der wirtschaftlich florierende Staat hat jedoch seinen Preis: Der Rückbau des Sozialstaats – der mit einer tieferen Fiskalquote einhergeht – und die Betonung der Eigenverantwortung erhöhen die sozialen Ungleichheiten. Die Lohn- und Einkommensschere steigt deutlich an, was die soziale Kohäsion des Landes schwächt.
Club Schweiz
Trotz Bekenntnis zur Offenheit soll die formelle Souveränität so weit wie möglich bewahrt werden. Diese Strategie führt immer wieder zu Zielkonflikten und schwierigen Güterabwägungen. An die Stelle der Bilateralen Verträge ist ein Freihandelsabkommen getreten, das den Verlust des direkten Marktzugangs in die EU-Gütermärkte jedoch nicht vollständig auszugleichen vermag. Die daraus entstandenen Unsicherheiten behindern sowohl Investitionen als auch Exporte, was zu tieferen Wachstumsraten der Pro-Kopf-Einkommen führt. Auch der Verlust der Personenfreizügigkeit drückt auf das Produktivitätswachstum: Es wandern weniger hochqualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz ein, stattdessen kommt es zu Auslagerungen ins Ausland und einer Verlangsamung des Beschäftigungswachstums. Diese Entwicklung wird auch durch den geschwächten Finanzplatz verstärkt, der seine Onshore-Aktivitäten im Ausland immer mehr ausbaut. Ein Ausgleich stellen die Liberalisierungs- und Privatisierungsmassnahmen dar, die das hohe Preisniveau im Inland etwas zu senken vermögen. Das Wachstum kann knapp gehalten werden, weil die Schweizer Wirtschaft auf Effizienz und eine konsequente Nutzung von Marktnischen getrimmt wird. Auch die Geldpolitik trägt ihren Teil dazu bei. Sie orientiert sich nicht an der Exportkonjunktur, sondern stark an der Preisstabilität, was den Franken stärkt und die Kaufkraft im Ausland erhöht. Es kommt zu einem leichten Anstieg der sozialen Ungleichheit und einer tieferen Fiskalquote, weil die Schweiz eine im Vergleich zu heute weniger ausgeprägte Sozial- und Umverteilungspolitik führt.
Tragfähige Partnerschaft
Die im Jahr 2030 umgesetzte dynamische Integration der Schweiz in die Institutionen des EU-Binnenmarktes erhöht die Investitionssicherheit und setzt brachliegende Produktivitätspotentiale frei. Dadurch wird die Beschäftigungs- und Lohnentwicklung stimuliert und – dank der weitergehenden Öffnung und der Zunahme von Importen – die Hochpreisinsel etwas abgetragen. Neue Marktzugangsabkommen – vor allem Finanzdienstleitungen und Strom – lassen die Schweizer Wirtschaft erstarken und führen zu einem höheren Pro-Kopf-Wachstum im Vergleich zum Status quo. Die Zuwanderung bewegt sich ungefähr im heutigen Rahmen, die noch stärkere Vernetzung und der internationale Austausch erfordern es aber, dass die gesellschaftliche und politische Integration der ausländischen Arbeitskräfte verbessert wird. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die meisten Gemeinden niedergelassenen Ausländern das kommunale Stimm- und Wahlrecht erteilen. Der Schweizer Franken hält sich weiterhin als harte Währung und dank tieferem inländischen Preisniveau und dem Anstieg der Löhne steigt die Kaufkraft im Ausland an. Die Fiskalquote und die Einkommensverteilung verändern sich im Vergleich zum Status quo nicht in relevanter Weise.
Skandinavischer Weg
Die Schweiz 2030 als EU-Mitglied und Sozial- und Versorgerstaat bedeutet in erster Linie eine deutliche Zunahme der Fiskalquote. Denn die lückenlose soziale Sicherheit und die vielen staatlichen Gratisdienstleistungen sind nur mit höheren Steuern zu haben. Aber auch ein Produktivitätsschub auf den Gütermärkten ist notwendig. Damit sich der Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt erhöht, beseitigt man Infrastrukturmonopole und führt Privatisierungen durch. Die verbesserte Erwerbsbeteiligung der Frauen aufgrund der konsequenten Gleichstellungspolitik gleicht die durch die erhöhte Abgabenlast verursachten negativen Arbeitsanreize grösstenteils aus, weshalb keine relevanten Effekte auf die Beschäftigung beobachtet werden können. Der Deregulierung der Güter- und Infrastrukturmärkte steht eine stärkere Regulierung des Arbeits- und Wohnungsmarktes gegenüber. Somit geht die Zuwanderung zurück, weil sich der rigide Arbeitnehmerschutz und die zentrale Aushandlung der Löhne als wirksamer Schutz der Inländer erweist. Per Saldo bewegt sich das Pro-Kopf-Wachstum im Rahmen des Status quo, die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen sinkt hingegen aufgrund der zusätzlichen Steuern und den ausgebauten Sozialtransfers. Der Schweizer Franken neigt zur Schwäche, da er sich mehr als heute am Euro orientiert. Somit nimmt auch die Kaufkraft der Schweizer im Ausland leicht ab.
Europäische Normalität
Der vollständige EU-Beitritt inklusive Übernahme des Euro bedeutet für die Schweiz von 2030 eine verbesserte internationale Wettbewerbsfähigkeit, eine gestärkte Exportwirtschaft und einen Beschäftigungsboom im Inland. Dies stimuliert das Wirtschaftswachstum. Der dadurch angefachten zusätzlichen Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften steht aber gegenüber, dass die Schweizer Eurolöhne weniger attraktiv sind als die einstigen Frankenlöhne. Die Zahl der Zuwanderer ändert sich somit im Vergleich mit heute nicht massgeblich. Durch die hürdenlose Binnenmarktintegration werden auch die Wettbewerbsintensität und die Produktivität auf dem Schweizer Binnenmarkt gefördert. Dies stimuliert das Wachstum der Pro-Kopf-Einkommen zusätzlich und führt zu höherem Wachstum im Vergleich zum Status quo. Die Schweiz hat den harten Franken allerdings gegen eine strukturell zur Schwäche neigende Währung getauscht: die verbesserte inländische Kaufkraft, die aufgrund der Erosion der Hochpreisinsel Schweiz zustande gekommen ist, wird mit einer schwächeren Kaufkraft im Ausland erkauft. Erwähnt werden muss auch, dass das Regulierungsniveau punktuell steigt, vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Die Schweiz fungiert als EU-Nettozahlerin. Zusammen mit der Anhebung der Mehrwertsteuer auf das deutlich höhere EU-Niveau, ist mit einem Anstieg der Fiskalquote zu rechnen. Die Verteilung verändert sich gegenüber dem Status quo nicht merklich.