Für einmal sei diese Kolumne ein Lehrstück über die Ungenauigkeit einer zentralen wirtschaftsstatistischen Kennzahl und über die Schwierigkeit internationaler Vergleiche. Viele Länder rechnen nämlich gemäss einer OECD-Studie aus dem Jahr 2011 für die Berechnung ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) Teile der Schattenwirtschaft mit ein. Bei einigen Ländern weiss man, wie viel sie einberechnen, bei anderen kann man nur Schätzungen vornehmen, bei wieder anderen weiss man nicht, ob sie eine solche Korrektur überhaupt vornehmen. In manchen Ländern macht die Schattenwirtschaft sehr viel aus, in anderen ist sie fast vernachlässigbar, wobei die Schätzungen der Experten, etwa jene der OECD und jene des wohl besten Kenners der Schattenwirtschaft, Professor Friedrich Schneider von der Universität Linz, über den genauen Umfang zum Teil voneinander abweichen. Und von dieser geschätzten Schattenwirtschaft rechnen die einen Länder viel ein, die anderen wenig.

Maastricht-Kriterien erfüllen

Wenn man das BIP der Länder miteinander vergleicht, wird daher höchst Unterschiedliches verglichen. Die Unterschiede sind um einiges grösser als die Differenzen von 1% oder 2% etwa in den Wachstumsraten, die nur zu gerne auf die Kommastelle genau ausgewiesen und analysiert werden.

Nehmen wir das Beispiel Italiens, um die Bedeutung dieses Vorgangs besser zu verstehen: Die Schattenwirtschaft, die die OECD mit «non-observed, hidden, shadow, underground» umschreibt, floriert dort. Sie erreichte 2003 gemäss OECD, die sich ihrerseits auf Schneider stützt, einen Umfang von rund 26% des offiziell ausgewiesenen BIP. Es gibt aber auch eine Lesart, wonach die Schattenwirtschaft sogar einen Umfang von 42% ausmache. Hier sei die kleinere Zahl der Ausgangspunkt, zumal die Differenz an den folgenden grundsätzlichen Überlegungen nichts ändert.

Wichtig ist: Rund 16% des offiziell ausgewiesenen BIP stammen nicht aus der «offenen» Wirtschaft, sondern dabei handelt es sich gemäss der Schätzung italienischer Statistiker um den Beitrag der Untergrundwirtschaft zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Angeblich soll Italien im Umfeld der Euro-Einführung mit dieser «Korrektur» begonnen haben. Es wäre zumindest plausibel, denn ein um eine solche statistische «Korrektur» erhöhtes BIP lässt die laut Maastricht-Kriterien zu erfüllenden Schwellenwerte in rosigerem Licht erscheinen. Ein Haushaltdefizit, das gut 3,4% der Wertschöpfung entspricht, die in nicht-versteckter Wirtschaft erarbeitet wird, lässt sich so auf 2,9% des um einen Teil der Schattenwirtschaft höher ausgewiesenen BIP drücken. Analoges gilt für die Staatsverschuldung. Der in absoluten Zahlen gleiche Betrag wirkt plötzlich – bezogen auf den Massstab des grösseren BIP – um einiges kleiner.

Fiskalquote mit und ohne Schattenwirtschaft

Nun kann man mit Fug behaupten, der Einbezug der Schattenwirtschaft sei völlig richtig, weil diese ja auch zum Volkswohlstand beitrage. Eigentlich müsse man daher sogar die ganze Schattenwirtschaft einbeziehen. Tatsache ist: Der Wohlstand in Ländern mit einer starken Schattenwirtschaft, die nur zum Teil oder sogar überhaupt nicht in die BIP-Berechnung einbezogen wird, liegt um einiges höher, als es das offizielle BIP pro Kopf zum Ausdruck bringt.

Wenn man die Schätzung von 26% für die gesamte Schattenwirtschaft akzeptiert und davon nur 16 Prozentpunkte im BIP einberechnet sind, liegt der Volkswohlstand in Italien also um 10% höher, in Russland um 16%, in Schweden um 18% und in der Schweiz um immerhin gut 9%. Da man bei Deutschland nicht weiss, in welchem Umfang es die Schattenwirtschaft in die BIP-Berechnung einbezieht, sei einfach rein hypothetisch angenommen, die Hälfte der auf 16% geschätzten Schattenwirtschaft sei im BIP berücksichtigt. Dann wäre Deutschland um 8% reicher als in den offiziellen Zahlen dargestellt.

Doch so sehr der Einbezug der Schattenwirtschaft mit Blick auf die Messung des Volkswohlstands sinnvoll ist, so problematisch ist er, wenn es um finanz- und fiskalpolitische Fragen geht. Denn will man wissen, ob Defizite oder Schulden der öffentlichen Hand verkraftbar sind, müssten sie eigentlich in Beziehung zu jenem Teil der Wirtschaft gesetzt werden, der den Staat finanziert. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Schattenwirtschaft kaum zur Finanzierung des Staatshaushalts beiträgt. Zwar listet die OECD eine Fülle von Gründen auf, weswegen wirtschaftliche Aktivitäten sich staatlicher Erfassung entziehen, aber fast unabhängig von diesen Gründen bedeutet es jedenfalls, dass diese Aktivitäten dann auch steuerlich nicht erfasst sind. Die Schattenwirtschaft zahlt praktisch keine Steuern.

Wird nicht davon ausgegangen, dass es mit der Zeit gelingen wird, alle Unternehmen und Bürger zu braven Steuerzahlern zu machen, müsste die Erfüllung der Maastricht-Kriterien, an die derzeit allerdings kaum ein Euro-Land denkt, an dem um die Schattenwirtschaft bereinigten BIP gemessen werden. Das heisst, dass alle Euro-Staaten noch schlechter dastehen, als es die offiziellen Zahlen vermuten lassen.

Gleiches gilt für die Staats- bzw. die Zwangsabgabenquote. Sie sieht, wenn man die Schattenwirtschaft (teilweise) in das BIP einberechnet, deutlich humaner aus als ohne diese Bereinigung. Für Italien macht die Differenz zwischen der «richtigen» und der ausgewiesenen Staatsquote mehr als 7 Prozentpunkte aus, in Russland sind es sogar rund 12 Prozentpunkte. Leider sind verfügbare Daten schon rund zehn Jahre alt, aber an der Grundaussage dürfte sich seither kaum etwas geändert haben. Sie lautet, dass die Belastung mit Zwangsabgaben für jenen Teil der Wirtschaft, der sich korrekt verhält und nicht in die Schattenwirtschaft flüchtet, deutlich höher ist, als es gängige Statistiken zeigen.

 Wieder ein Sonderfall Schweiz

Die Schweiz ist auch hier, wie in so vielen anderen Belangen, ein Spezialfall. Gemäss Auskünften des Seco wird in der Schweiz kein Anteil von Schattenwirtschaft in das BIP einberechnet. Bereinigte und unbereinigte Fiskalquote wären also gleich hoch. Das heisst, dass die ausgewiesene Fiskalquote von 42,0% tatsächlich der Durchschnittsbelastung der Unternehmen und Haushalte entspricht. Wenn dem so ist, wird der berechtigte Hinweis darauf, dass die schweizerische Zwangsabgabenquote entgegen volkstümlicher Meinung gar nicht so tief ist, etwas relativiert.

Rechnet man überall die Schattenwirtschaft aus dem BIP heraus, verschiebt sich der internationale Vergleich deutlich zugunsten der Schweiz. Das Fazit lautet somit: Die Belastung ist hoch, aber sie ist – richtig gerechnet – in vielen anderen Ländern massiv höher. Was hierzulande als Staatsquote ausgewiesen wird, entspricht der Realität, in sehr vielen anderen Staaten dagegen nicht. Noch viel grundsätzlicherer Natur ist einmal mehr die Erkenntnis, dass volkswirtschaftliche Daten, selbst offizielle, nur cum grano salis interpretiert werden dürfen; es handelt sich bei den meisten makroökonomischen Kennzahlen bestenfalls um Grössenordnungen.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 30. Juni 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.