Machen Volksvertreter das, was die Bürger wollen? Was am Stammtisch bezweifelt wird, bestätigt sich empirisch: Im Einzelfall treffen Politiker den Volkswillen nur unwesentlich besser als ein Zufallsgenerator. Mit diesem provozierenden Befund eröffnete David Stadelmann, Volkswirtschafter an der Universität Bayreuth, sein Referat bei Avenir Suisse. Münzen zu werfen statt abzustimmen empfiehlt der Wissenschafter gleichwohl nicht. Denn seine differenzierte Analyse zeigt, dass zwar einzelne Politiker regelmässig ausscheren, die Gesamtheit der Volksvertreter den Souverän aber recht genau repräsentiert.
Majorz trifft den Volkswillen besser
Um dies nachzuweisen, eignet sich das politische System der direkten Demokratie in der Schweiz ausgezeichnet, weil die Entscheide von Repräsentanten und Repräsentierten gut dokumentiert sind. In Messreihen über viele Jahre vergleicht der Wissenschafter die Resultate von Parlaments- und Volksabstimmungen und quantifiziert so die Effekte von Institutionen, Politikereigenschaften und Interessengruppen auf das Abstimmungsverhalten in National- und Ständerat.
So zeigt sich etwa, dass im Majorzsystem gewählte Ständeräte den durchschnittlichen Volkswillen weit besser abbilden als die Proporzpolitiker des Nationalrats – unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Sobald ein Politiker in die kleine Kammer wechselt, mittet er sich ein, lautet der Befund. Ebenfalls bestätigt wird die Erwartung, wonach grössere Wahlkreise mit entsprechend mehr Repräsentanten automatisch dazu führen, dass sich mehr Menschen vertreten fühlen. Aus diesen Ergebnissen folgert der Wissenschafter , dass der Volkswille durch eine möglichst grosse Zahl von im Majorzverfahren gewählten Politikern am besten repräsentiert werde.
Während diese Resultate nicht eigentlich überraschen, erstaunt es schon mehr, dass entgegen der landläufigen Meinung Faktoren wie Geschlecht, Alter, Familie, Beruf, Ausbildung, Militärdienst oder Zeit im Rat keine signifikanten Spuren im allgemeinen Abstimmungsverhalten der Volksvertreter hinterlassen. Zwar suggerieren gewisse Zahlenreihen auf den ersten Blick, dass Politikerinnen deutlicher von der Mehrheit abweichen als ihre männlichen Kollegen. Der wahre Grund für ihre leicht grössere Differenz vom Medianwähler ist jedoch, dass Frauen tendenziell mehr in linken Parteien politisieren – welche wiederum eine tiefere Kongruenz mit der Mehrheit aufweisen als Mitte- und Rechtsparteien: Die Schweiz, so Stadelmann, sei ein bürgerlich geprägtes Land.
Besserverdienende werden geringfügig besser vertreten
Interessant ist der Einfluss des Einkommens auf das Abstimmungsverhalten: Stadelmann und sein Team haben herausgefunden, dass die Kongruenz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten mit dem Einkommen der Bürger steigt. Besserverdienende werden von den Parlamentariern tendenziell besser vertreten als Arme. In der Diskussion, an der sich auch Marco Portmann und Reiner Eichenberger von der Universität Fribourg beteiligten, wurden solche und andere Zusammenhänge diskutiert. Laut David Stadelmann hat jedoch der weltanschauliche Standpunkt der Bürger grösseren Einfluss auf das Abstimmungsverhalten als das Einkommen. Dies ist insofern plausibel, als sich so erklären lässt, weshalb das Volk regelmässig Vorlagen ablehnt, die der Mehrheit vordergründig zwar finanzielle oder andere wirtschaftliche Vorteile suggerieren, den Staat alles in allem jedoch teuer zu stehen kämen.
Hinterfragt wurde in der anschliessenden Diskussion der Ansatz, den Medianwähler mit «dem Volk» oder gar mit einer wie auch immer gearteten «Wahrheit» gleichzusetzen. Denn warum sollte ein Politiker, dessen Meinung von der Mehrheit abweicht, nicht ausnahmsweise einmal recht haben?