Die Personenfreizügigkeit hat nicht nur, wie zu erwarten war, zu einem Anstieg der Zuwanderung aus dem Ausland geführt. Sie hat vielmehr auch – woran man kaum dachte – an einigen Orten eine Netto-Abwanderung einheimischer Personen bewirkt. Anekdotische Evidenz dafür bieten der Kanton Zug und die Stadt Zürich. Beide Beispiele weisen darauf hin, dass dort, wo eine hohe Standortattraktivität «mobile» Personen aus dem Ausland anzieht, der Saldo der Binnenwanderung gerne negativ ausfällt.

Vor dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens war der Saldo der jährlichen interkantonalen Binnenwanderung im Kanton Zug stets positiv. Es zogen also jeweils mehr Personen aus anderen Kantonen nach Zug als umgekehrt von Zug in andere Kantone. In den Jahren 2006 bis 2009 wanderten hingegen per saldo fast 3‘000 Personen oder rund 2,5% der Gesamtbevölkerung von Zug in andere Kantone (wahrscheinlich vor allem nach Luzern). Der Saldo der Zuwanderung aus dem Ausland lag in der gleichen Periode bei rund 5‘500 Personen, wobei der Anteil der Zuwanderer mit Hochschulabschluss und  überdurchschnittlichem Einkommen wegen der günstigen Steuersituation über dem Schweizer Durchschnitt von nahezu 60% liegen dürfte.

In der Stadt Zürich setzte die Abwanderung der lokalen Wohnbevölkerung schon viel früher ein. Man muss bis in die frühen 1990er Jahre zurückblättern, um positive Saldi der Binnenwanderung zu finden. Zwischen 1996 und 2007 «verlor» die Stadt jährlich netto rund 2‘000 Personen an die umliegenden Gemeinden im Kanton Zürich. Diese intrakantonale Abwanderung hat sich seither auf mehr als 4‘000 Personen pro Jahr verdoppelt. Nimmt man die interkantonalen Bewegungen hinzu, so bleibt der jährliche Saldo der Binnenwanderung nach wie vor negativ, ist aber um rund die Hälfte kleiner. Für das letzte Jahr zeigt ein Bericht der ZKB zudem, dass die Stadt Zürich gegenüber allen Regionen der Schweiz Einwohner verloren hat.

Der zeitliche Verlauf zeigt in beiden Fällen eine umgekehrte Korrelation zwischen dem Zuzug aus dem Ausland und der Binnenwanderung. Liegt also ein Verdrängungseffekt vor? Eine Antwort fällt schwer. Offensichtlich sehen sich Haushalte zunehmend mit der Entscheidung konfrontiert, entweder für den beliebten und begehrten zentralen Wohnort steigende Mieten zu akzeptieren, oder aber weiter weg zu ziehen und sich somit tiefere Wohnkosten mit höherem Zeitaufwand und höheren Kosten für den Arbeitsweg zu erkaufen. Das löst in breiten Teilen der Gesellschaft Unbehagen aus, denn es sind dies ohne Zweifel schwierige und schmerzhafte Entscheide.

Dabei geht allerdings oft vergessen, wie viele Menschen in der Schweiz von der Offenheit und der Zuwanderung profitieren. Vor allem die neue Zuwanderung der jüngsten Zeit ist zum grössten Teil ergänzend und nicht ersetzend. Das bedeutet, dass der Arbeitskräftepool um Spezialisten und Führungskräfte ergänzt wird, die in der Schweiz fehlen, was wiederum viele weitere Arbeitsplätze schafft oder sichert. Und erst recht vergessen geht wohl, dass den «Verlierern» ja auch Gewinner gegenüberstehen.

Für so manche Quartiere oder Regionen mit zunächst relativ tiefer Standortattraktivität ist die Binnenwanderung eine Chance: Günstigere Wohnungen, gute Verkehrsverbindungen, die Entwicklung einer gewissen Gemeinde-Infrastruktur und «neuer» Zentren können Mauerblümchen plötzlich in einem besseren Licht erscheinen lassen. In den letzten drei Jahren konnten im Kanton Zürich zum Beispiel Schlieren und Volketswil die Einwohnerzahlen alleine durch die Binnenwanderung um etwa 5% erhöhen. Auch Hochdorf und Sins nahe des Kantons Zug profitierten von der Binnenwanderung und erlebten in den letzten Jahren einen bis heute andauernden Bauboom.

 Dr. Martin Wermelinger arbeitete von Januar 2011 – März 2012 als Projektleiter bei Avenir Suisse.