Für Optimisten waren die letzten Jahre eine Provokation. Quasi im Quartalstakt brachen die Katastrophen über die Welt herein. Lustig-frivole Zukunftsperspektiven haben damit einen schweren Stand. Es ist vielmehr die Zeit der Mahner und Schwarzmaler. «Sind wir noch zu retten?», fragt etwa der deutsche Publizist Klaus Schweinsberg in seinem 2010 veröffentlichten Buch. Wer den Band liest, ist am Schluss keinesfalls sicher, ob die Frage wirklich bejaht werden kann.

Demokratie in Gefahr?

Drohen Jahre der wirtschaftlichen Flaute und der hohen Arbeitslosigkeit? Sind die protektionistischen Tendenzen mit ihren extremistischen Auswüchsen in der Politik eine echte Gefahr für die Demokratie und für die Marktwirtschaft? Wird die ultraexpansive Geldpolitik des Westens eine Inflation herbeiführen, die am Ende den Mittelstand seiner existenziellen Grundlage berauben wird? In Zusammenarbeit mit Avenir Suisse macht die az eine Auslegeordnung der in internationalen Polit- und Wirtschaftskreisen diskutierten Krisenszenarien, die für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in den kommenden Jahren entscheidend sein könnten, und liefert dazu eine Beurteilung, wie ernst sie wirklich zu nehmen sind.

Der freie Welthandel gerät ins Stocken (Wahrscheinlichkeit 80%)

Die Schuldenkrise in Europa und zuvor die Exportoffensive der Chinesen haben auf der ganzen Welt zu protektionistischen Tendenzen geführt. Einzelne Staaten schützen die eigene Wirtschaft vor negativen Einflüssen von aussen mit Mindestkursen, Währungsabwertungen und anderen Massnahmen. Darüber hinaus wird der freie Welthandel mit technischen Restriktionen oder im Namen von Umwelt und Gesellschaft behindert. Das herkömmliche multilaterale System der freien Marktwirtschaft, in dem jeder mit jedem Handel treibt, löst sich in mehrere kleinere Wirtschaftseinheiten auf. So entstehen mehr oder weniger unabhängig funktionierende Zentren, die eine neue multipolare Wirtschaftsordnung definieren. Knotenpunkte dieses neuen Systems werden China, Indien, die USA, die EU, Russland und Brasilien sein. Um diese Pole bilden sich Ländergürtel, die ihre Wirtschaftspolitik auf die einzelnen Zentren ausrichten werden. Der grenzenlose freie Handel im globalisierten Wirtschaftssystem kommt damit an sein Ende.

Kommentar Avenir Suisse: Der Protektionismus ist heute eine echte Gefahr. Kleine Länder wie die Schweiz leiden am stärksten darunter, weil sie aufgrund des kleinen Binnenmarktes für ein gesundes Wirtschaftswachstum auf die Absatzmärkte in anderen Ländern angewiesen sind. Grosse Länder wie China oder die USA geniessen wegen ihres riesigen Binnenmarktes eine gewisse Unabhängigkeit von der Welt. Auch sie brauchen aber die Exportmöglichkeiten, also den Handel, um ihren Lebensstandard zu steigern.

Der Euro bricht auseinander (Wahrscheinlichkeit: 30%)

Der im Januar 2002 als Bargeld eingeführte Euro wird wieder verschwinden. Die 17 Mitgliedsstaaten der Währungsunion sind in ihrer Wirtschaftsstruktur zu unterschiedlich, und die Gemeinschaftswährung verschärfte die Gegensätze noch, weil die Länder ihr Wirtschaftswachstum und ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr mit einer eigenen Geldpolitik steuern konnten. Die Schuldenkrise hat den politischen Prozess der Desintegration in Gang gebracht. Am Ende dieser Entwicklung wird ein Kern-Euro mit Deutschland, Österreich, den Beneluxländern und Frankreich als Ankerstaaten übrig bleiben. Die anderen Euro- Länder führen die alten Währungen wieder ein: Griechenland die Drachme, Italien die Lira, Spanien den Peso. Wie vor der Euro-Einführung könnten die Länder dann wieder mit sporadischen Währungsabwertungen ihre Haushalte auf Vordermann bringen und so die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit stärken. Die Existenz der Europäischen Union (EU) wird dadurch nicht gefährdet. Alle Länder bleiben Mitglied der EU, aber nur wer stark genug ist, wird in den Euro-Club aufgenommen. Es entsteht ein Europa mit mehreren Geschwindigkeiten.

Kommentar Avenir Suisse: Die forcierte europäische Integration über die Einheitswährung ist gescheitert. Ein völliges Auseinanderbrechen des Euro ist dennoch unwahrscheinlich. Möglich ist dagegen, dass in der EU künftig neben dem Euro auch andere Währungen existieren werden, weil damit die wirtschaftliche Konstitution der Staatengemeinschaft gefestigt werden könnte.

Die Demokratie gerät in eine Krise (Wahrscheinlichkeit: 40%)

Die demokratisch gewählten Regierungen verlieren ihre breite Unterstützung in der Bevölkerung. Stattdessen führen in immer mehr Ländern Technokraten, die sich nicht dem demokratischen Wahlprozess stellen müssen, die Geschäfte. Die einzige Legitimation der neuen Leader ist ihr Sachverstand. So wie es heute schon in Italien der Fall ist, wo der Wirtschaftsprofessor Mario Monti regiert. Daneben erleben populistisch- extremistische Parteien Hochkonjunktur, die Minderheiten zunehmend marginalisieren. Einen Vorgeschmack gaben die Franzosen mit ihrer Anti-Roma-Offensive unter Präsident Nicolas Sarkozy oder die Ungaren, die die Partei Jobbik, die offen rassistisches Gedankengut propagiert, 2010 in den Parlamentswahlen zur drittstärksten Kraft wählten. Die Schwächung der Demokratie bedeutet eine weitere Desintegration in Europa und eine Zunahme der protektionistischen Tendenzen, was letztlich auch der Wirtschaft Schaden zufügt.

Kommentar Avenir Suisse: Die Regierungen werden Sozialleistungen nicht zuletzt der Rentner beschneiden und Privilegien der Arbeitsplatzinhaber abschaffen müssen, um die Haushalte zu entschulden und den Arbeitsmarkt zu beleben, also zum Wachstum zurückzukehren. Das geht kaum anders als um den Preis der Unpopularität – ein gefundenes Fressen für «terribles simplificateurs» und Populisten. Es könnte daher in einzelnen Ländern zu immer schnelleren Wechseln von Regierungen führen und dürfte das Aufkommen von autoritären Führungsmodellen begünstigen.

Das Geld verliert immer mehr an Wert (Wahrscheinlichkeit: 60%)

Die Geldschleusen der Notenbank sind weit geöffnet. Bisher ist das Geld noch nicht in die Realwirtschaft gedrungen, weil die Banken das Geld bei sich horten und die Europäische Zentralbank durch ihre Massnahmen gleichzeitig Geld abgeschöpft und so eine inflationstreibende Ausweitung der Geldmenge verhindert. Doch US-Ökonomen fordern schon lange eine noch expansivere Geldpolitik, und der Ex-IMF-Chefökonom und Harvardprofessor Kenneth Rogoff empfiehlt Inflationsraten zwischen 4 und 6 Prozent. Die EZB wird diesem Druck wegen der stagnierenden Wirtschaft nachgeben, nicht zuletzt, weil damit die Staatsschulden an Wert verlieren und die Haushalte günstig saniert werden können. Die Menge des in der Realwirtschaft umlaufenden Geldes beginnt zu wachsen, schneller als jene der zur Verfügung stehenden Güter. Das Geld entwertet sich, die Inflationsraten steigen auf 4, 8, später über 10 Prozent in Europa. Am stärksten leiden wird der Mittelstand, der sein Vermögen in Geldwerten wie Staatspapieren anlegt.

Kommentar Avenir Suisse: Die Notenbanken behaupten, die Inflation im Griff zu haben, aber sie dürften dem Druck der Politik kaum standhalten. Diese hat nicht die verheerenden langfristigen Folgen der Inflation im Auge, sondern die kurzfristige Linderung durch die Geldschwemme. Wenn die Inflation zweistellige Raten erreichte, dürfte es zum Gegensteuern kommen. Das würde die Inflationsgefahr bannen, hätte aber sehr hohe Zinsen und eine Rezession zur Folge.

Die Wirtschaft wächst nicht mehr (Wahrscheinlichkeit: 70%)

In den nächsten zehn Jahren wird sich keine neue Hochkonjunktur einstellen. Es fehlt an einer Basisinnovation wie einst der Dampfmaschine, der Elektrizität oder dem Auto, die für eine lang anhaltende Aufschwungphase sorgen könnte. Auch der Antriebsmotor der IT-Industrie ist nach über zwanzig Jahren abgenutzt: Apple und Co. werden die Ideen ausgehen. Firmen horten ihr Geld deshalb lieber auf dem Bankkonto, als dass sie es in neue Projekte investieren, die neue konjunkturelle Impulse liefern würden. Die Arbeitslosigkeit verharrt auf einem hohen Niveau, wobei einzelne Gruppen wie die Jugendlichen besonders stark betroffen sein werden. Die derzeitige Sparpolitik funktioniert nach dem Motto «mehr Einnahmen statt Ausgaben». Damit fällt ein wichtiger Wachstumstreiber weg, weil die Staaten zur Sanierung der Bilanzen sparen müssen und kein Geld mehr für Konjunkturförderungsprogramme ausgeben können.

Kommentar Avenir Suisse: Es gibt die neuen Technologien, wie künstliche Intelligenz, Robotik, Bioinformatik oder Nanotechnologie. Eine neue industrielle Revolution wird unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft in den nächsten zwanzig Jahren umgestalten, dabei haben gerade die alten Industrieländer wie die Schweiz gute Chancen. Allerdings erfordern diese Technologien hoch qualifizierte Arbeitskräfte, eine Beschäftigung von Arbeitermassen wie im Fabrikzeitalter gibt es kaum mehr. Vorerst aber, in den kommenden zehn Jahren, dürften die industrialisierten Länder ihr Potenzialwachstum kaum erreichen.

Der grosse Krieg steht vor der Tür (Wahrscheinlichkeit: 10%)

Der Nahe und Mittlere Osten gleicht einem Pulverfass. Beobachter befürchten, dass der Abzug der US-Truppen vom Hindukusch einen «sicherheitspolitischen Dammbruch in Europa» auslösen könnte, wie sich der deutsche Publizist Klaus Schweinsberg ausdrückt. Der wachsende Freiraum könnte islamistischen Terrorgruppen Aufwind geben, die die Region als Basis für Terroreinsätze im Westen nutzen könnten. Kriegerisches Potenzial sehen Militärexperten zudem im Aufstieg Chinas zur Weltmacht. China wird mit zunehmender Stärke die eigenen Interessen dezidierter vertreten, was die USA und andere Staaten herausfordern wird. Vertreter dieser These ziehen Parallelen zur einstmaligen Pattsituation des Kalten Kriegs zwischen den USA und der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg; sie halten einen Hegemonialkrieg für möglich. Die Manöver im Ost- und Südchinesischen Meer vor ein paar Monaten lieferten dafür einen Vorgeschmack: Auf die Provokation eines chinesisch-russischen Seemanövers antworteten die USA mit einer gemeinsamen Militärübung mit den Philippinen.

Kommentar Avenir Suisse: Ein Krieg ist aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung der Staaten eher unwahrscheinlich. Die grösste Kriegsgefahr lauert im Nahen Osten, aber auch diese Region ist heute stärker im Weltwirtschaftssystem verankert, sodass ihr ein Krieg mehr Schaden zufügen als Nutzen bringen würde.

Die Generationen verkrachen sich (Wahrscheinlichkeit: 80%)

Das Verhältnis zwischen Jung und Alt gerät aus den Fugen. Der Rückgang der Geburtenrate dünnt die Reihen der Erwerbstätigen aus, was tiefere Wachstumsraten der Wirtschaft zur Folge hat. Die Überalterung der industrialisierten Welt führt zu Spannungen im Vorsorge- und Rentensystem, weil mit zu optimistischen Annahmen gerechnet wird. Das muss korrigiert werden und wird für Zündstoff im Verhältnis von Jung und Alt sorgen. Die Regierungen werden die Renten kürzen, die Beitragsdauer und das Rentenalter erhöhen müssen. Zudem bringt die fortschreitende Überalterung der Gesellschaft höhere Ausgaben im Gesundheits- und Pflegebereich mit sich. Schon heute stehen die Staaten unter Berücksichtigung der zukünftigen Kosten für Renten und Pflegeleistungen – also mit der sogenannten impliziten Verschuldung – massiv schlechter da, als es ohne Berücksichtigung dieser Kosten den Anschein macht. In Deutschland betragen die expliziten und impliziten Schulden zusammen insgesamt rund 200 Prozent des Bruttoinlandprodukts, in Frankreich sind es rund 350 Prozent, in Luxemburg gar über 1000 Prozent. Das schafft zusätzlichen Spardruck, der wiederum den Wirtschaftsmotor bremsen wird.

Kommentar Avenir Suisse: Es wird in der westlichen Welt weiter auf Kosten der nächsten Generation gelebt. Die Konsequenzen dieses Verhaltens werden unangenehm ausfallen: Die Renten müssen gekürzt, die Beitragsdauer für die Altersvorsorge und das Rentenalter müssen dagegen erhöht werden.

Die Börsen fahren Achterbahn (Wahrscheinlichkeit: 80%)

Die offenen Geldschleusen der Notenbanken sollen der Wirtschaft auf die Beine helfen. Aber sie bergen auch eine grosse Zerstörungskraft in sich. Denn das viele Notenbankgeld sorgt dafür, dass die Finanzmärkte künstlich hochgehalten werden. «Asset Inflation» heisst das im Fachjargon: Die Vermögenswerte werden künstlich aufgebläht, mit Geld, das keinem realen Wert mehr entspricht. Entsprechend stehen die Möglichkeiten der Finanzmärkte in einem grossen Missverhältnis zu den wirklich vorhandenen Möglichkeiten der Realwirtschaft. Das Handelsvolumen der Finanzmärkte beträgt mit 4400 Billionen Dollar das Siebzigfache der Realwirtschaft. Dies sorgt für eine hohe Volatilität auf den Finanzmärkten. Auf kurze Phasen mit starken Kursanstiegen folgen Crash-Phasen mit Kursabstürzen. Da hilft es auch wenig, dass die Geschäftsbanken derzeit ihre Bilanzen gesundschrumpfen. Denn die riskanten Geschäfte werden nicht aus dem System genommen, sondern nur in die nicht regulierte Welt der Schattenbanken transferiert.

Kommentar Avenir Suisse: Die Marktwirtschaft als am wenigsten schlechte aller real möglichen Wirtschaftsordnungen bleibt krisenanfällig. Die internationalen Gremien und die nationalen Regierungen könnten und müssten sie sicherer machen, nicht durch internationale Koordination und Harmonisierung, sondern indem sie die Marktwirtschaft durchsetzen: Auch in der Finanzwelt müssen alle für ihre Entscheide haften – wer pleite geht, muss aus dem Markt ausscheiden.

Dieser Artikel erschien am 8. September 2012 (mit lllustrationen von Lina Müller) in der «Aargauer Zeitung».
Mit freundlicher Genehmigung der «Aargauer Zeitung».