Die soziale Integration der Zuwanderer funktioniert in der Schweiz erstaunlich gut, ja sehr gut. Wir kennen keine «Ghetto»-Städte und keine ethnisch organisierten Quartiere. Jede zweite Ehe in der Schweiz ist binational. Auch bei der politischen Integration sind wir in mancherlei Hinsicht vorbildlich: Seit 1992 lässt die Schweiz doppelte Staatsbürgerschaften uneingeschränkt zu. Unsere deutschsprachigen Nachbarländer sind hier zögerlicher.

Streng ist die Schweiz allerdings bei Einbürgerungsbedingungen. Trotzdem stellen knapp 875 000 dauerhaft in der Schweiz niedergelassene Menschen, die die harten Kriterien für eine Einbürgerung erfüllen, kein Gesuch. Sie erkennen, obwohl sie hier schon lange sesshaft sind, in einer Einbürgerung keinen Nutzen und verzichten auf das «Schweizersein».Machen wir ein Gedankenexperiment: Wie sähe die Zukunft der Schweiz aus ohne doppelte Staatsbürgerschaften, mit sehr hohen Einbürgerungshürden und ohne Ausländestimmrecht? In einer solchen Schweiz würde der Anteil der Stimmberechtigten an der Wohnbevölkerung unter 50 Prozent sinken. Die Demokratie würde zu einem Privileg einer Minderheit von «Alteingesessenen». Dem Zusammenleben wäre dies kaum förderlich. Es entstünde eine fragwürdige Zweiklassengesellschaft: Immer weniger Einwohnern, die Steuern zahlen und wählen dürfen, stünden immer mehr Einwohner gegenüber, die ebenfalls Steuern zahlen, aber nicht wählen dürfen. Bedenkt man den Bedeutungsverlust, den die noch vor hundert Jahren so wichtigen «Bürgergemeinden» gegenüber den heutigen Einwohnergemeinden erlitten haben, wird klar, in welch schwierige Lage wir in unserer immer globaler werdenden Schweiz geraten könnten.

Die politische Integration der Langzeitimmigranten ist also eine demokratische Notwendigkeit. Verschiedene Massnahmen – vereinfachte Einbürgerung, doppelte Staatsbürgerschaft, Ausländerstimmrecht auf lokaler Ebene – können hierzu beitragen.

Annäherung an die Realität

Das lokale Ausländerstimmrecht wäre ähnlich wie die Anerkennung der Doppelbürgerschaften ein Versuch, den vielen Menschen mit mehreren nationalen Identitäten gerecht zu werden. Die Staatsform der Demokratie geht auf eine Welt zurück, in der Mobilität und Migration nicht in dem Masse herrschten, wie dies heute der Fall ist. Insofern wäre das Ausländerstimmrecht auf lokaler Ebene keine Revolution, sondern bloss eine behutsame Annäherung an die Realität.

Es gibt jenseits dieser Langzeitbetrachtung einen weiteren wichtigen Grund, warum das Ausländerstimmrecht gerade auf lokaler Ebene besonders sinnvoll ist. In jüngster Zeit zeigen verschiedene Studien, wie sich die wichtigen politischen Entscheidungen immer stärker auf die nationale Ebene verlagern. Dort gibt es auch genug Kandidaten für öffentliche Ämter. Auf lokaler Ebene hingegen mangelt es stark an politischem Personal, und die Stimmbeteiligung sinkt laufend. Lokale Vorlagen sind zudem vielfach eher technischer, ja apolitischer Natur. Das alles erleichtert es – gerade auf lokaler Ebene -, die politischen Rechte nicht so eng an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen.

Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Und sie wird es bleiben, wenn sie erfolgreich sein und ihren Wohlstand bewahren will. Wo und wie sollte die (mentale) Grenzziehung zwischen dem «wir» und dem «sie» also erfolgen? Wir glauben, wir tun gut daran, diese Grenze etwas offener und durchlässiger zu gestalten. Als kleiner Schritt in diese Richtung sollten die Gemeinden, die wollen, das Ausländerstimmrecht einführen dürfen. Übrigens: Keine der zahlreichen Gemeinden, die dieses Recht schon kennt, denkt daran, es wieder abzuschaffen.

Dieser Beitrag erschient im Tages-Anzeiger vom 3. Oktober 2015.
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