Wie wird die Sicherheitspolitik in Europa aussehen, wenn die USA ihren Fokus zunehmend auf Asien ausrichten und zugleich Russland und China dominanter auftreten? Welche Optionen bieten sich in diesem Umfeld für die Schweiz? In seiner Eröffnungsrede zum Think-Tank-Summit 2020 benannte Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder die disparaten neuen Einflüsse auf die nationale Sicherheit und leitete damit zu zwei Konferenztagen über, die das Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten sollte.

Avenir-Suisse-Researcher Pascal Lago, der das Tagungsprogramm federführend konzipiert hatte, bot eine Auslegeordnung der Gefährdungen und skizzierte die Bedeutung der transnationalen Sicherheitszusammenarbeit in Europa.

Seit Veröffentlichung der EU Global Strategy im Jahr 2016 hätten die Europäer begonnen, proaktiver die eigenen Interessen zu vertreten, konstatierte Spyros Economides von der London School of Economics and Political Science. Er erkannte darin einen fundamentalen Wandel in der EU-Sicherheitspolitik – auch wenn der Fokus der Aussenpolitik vorderhand auf der Grenzsicherung bleiben werde. Konkret gehe es um den Schutz auf der östlichen und südlichen Flanke. 

Die USA braucht Partner

Trotz – oder gerade wegen – dem Fall des Eisernen Vorhangs sind die Ängste im Osten Europas nicht kleiner geworden, insbesondere nicht nach der Ukraine-Krise. «Hirntot», wie der französische Präsident in einem provokativen Statement behauptet hatte, sei die Nato allerdings längst noch nicht, versicherte Ben Hodges, der zwischen 2014 und 2017 die US-Army in Europa befehligt hatte. Die Vereinigten Staaten hätten sich nie von Europa abgewandt – im Gegenteil: Die amerikanische Truppenstärke sei in den vergangenen Jahren in Europa sogar gewachsen. Allerdings sei es 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs an der Zeit, dass Deutschland militärisch mehr Verantwortung übernehme. Die USA verfügten schlicht und einfach nicht über die Kapazität, um überall auf der Welt für Stabilität zu sorgen – sie seien auf Alliierte angewiesen.

Yvonni Stefania Efstathiou (International Institute for Strategic Studies) nahm eine erste Einschätzung der tatsächlichen Bemühungen für mehr europäische Autonomie vor. Mit dem Programm Pesco (Permanent Strategic Cooperation) gebe es zahlreiche Initiativen in diese Richtung. Diese seien aber noch (zu) wenig konkret. Oft referenziere man auch auf die Nato. Efstathiou sieht dies als Ausdruck des Bemühens, in Europas Sicherheitspolitik mehr Verantwortung zu übernehmen, ohne den langjährigen Partner Nato zu vergraulen. Ihr skeptisches Fazit lautete: Europa habe endlich begonnen, einen eigenen Plan B zu entwickeln, aber bis zur völligen strategischen Autonomie brauche es noch mindestens eine Dekade. Ausserdem müsse dieser Prozess von einer Konsolidierung in der Verteidigungsindustrie begleitet werden.

Um Verantwortung übernehmen zu können, müssten zuerst einmal gemeinsame Interessen definiert werden, konstatierte Steven Blockmans vom Centre for European Policy Studies. Das Programm Pesco hingegen fördere teilweise das Gegenteil, nämlich eine Tendenz zu Fragmentierung und Silodenken. Es gelte, in der europäischen Sicherheitspolitik die unterschiedlichen Kulturen zusammenzuführen und Schnittstellen zu finden. Es bestehe die Gefahr eines Vorpreschens von Frankreich – mit dem Resultat, dass Deutschland und Italien das Interesse verlören und die EU-Verteidigungsstrategie sich entlang der französischen Industrie entwickle. 

Neue Bedrohungen aus dem Süden

Karolina Muti (Istituto Affari Internazionali) stellte fest, dass die europäische Sicherheitsarchitektur traditionell auf einer transatlantischen Verbindung basiere. Der Fokus der südeuropäischen Länder liege jedoch naturgemäss im Süden – Stichwort Flüchtlingskrise. Sie plädierte deshalb für eine zweiteilige Strategie: Im östlichen Europa gehen es vor allem darum, unnötige Eskalationen zu vermeiden. Beim Dialog mit Russland sollte die EU auch Mitgliedsländer wie Italien einbeziehen, die traditionell eine moderate Haltung gegenüber Moskau pflegen. An Europas südlicher Grenze könnte die Nato stärker auf nichtmilitärische Mittel setzen und mit lokal verankerten Experten im Bereich Klimawandel und Migration zusammenarbeiten.

Alice Billon-Galland (Europe Programme at Chatham House) zeigte die französische Perspektive auf: Frankreich wolle proaktiv und pragmatisch agieren, statt weiterhin einfach zu reagieren. Angesichts der zahlreichen Brandherde im europäischen Interessensbereich sei Präsident Macron vor allem besorgt über die weitere Entwicklung. Verstärkt werde diese Sorge durch den Brexit – handle es sich beim Vereinigten Königreich doch um einen sicherheitspolitischen «Zwilling» der Grande Nation: Beide Länder seien sowohl Atommächte als auch ständige Mitglieder im Uno-Sicherheitsrat. Auch Billon-Galland wünschte sich mehr Engagement von Seiten Deutschlands.

Es liege nicht in der Natur des Brexit, die Situation zu vereinfachen, musste Benjamin Martill (University of Edinburgh)zugeben. Unter dem Strich sieht er eine divergente Entwicklung, auch wenn sowohl das Königreich als auch die Union offiziell ihr fortgesetztes Interesse an einer «tiefen Zusammenarbeit» beteuerten. Grossbritannien müsse nach dem EU-Austritt aus einigen relevanten Gremien austreten, während in der EU dafür die Kosten steigen. Positiv zu bewerten sei wenigstens die Kompatibilität zwischen Pesco und Nato.

Nach so viel Kritik an der deutschen Rolle in der europäischen Sicherheitszusammenarbeit bemühte sich Olaf Wientzek von der Konrad-Adenauer-Stiftung um eine Ehrenrettung Berlins: Eine gewisse Behäbigkeit in der Entscheidungsfindung sei zwar nicht von der Hand zu weisen. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Common Security and Defence Policy, CSDP) der Europäischen Union geniesse bei einigen Parlamentariern grösseren Support als die Nato. Obschon Kritiker behaupteten, Deutschland befinde sich mit der CSDP in einer Art «Komfortzone», bleibe festzustellen, dass sich das Land seit 2014 im Bereich der «hard security» zunehmend engagiere und weniger davor zurückscheue, «sich die Hände schmutzig zu machen». 

Die Rolle der Neutralen

Was bedeuten nun diese unterschiedlichen Herausforderungen für neutrale Staaten wie die Schweiz oder Österreich? Unbestritten ist für Pascal Lago (Avenir Suisse), dass Friedensmissionen mit der Neutralität kompatibel sind. Ausserdem seien viele «neue» Bedrohungen nicht militärischer Natur und könnten nur durch internationale Zusammenarbeit bewältigt werden – etwa im Cyber- und Terrorbereich.

Heinz Gärtner (International Institute for Peace und Universität Wien) hält eine völlig neutrale Haltung in ideologischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht kaum für möglich. Österreich habe mit dem Konzept der «aktiven» Neutralität gute Erfahrungen gemacht, etwa als Gastgeber und Standort für internationale Organisationen und bei Friedensmissionen wie z.B. im Kosovo, wo das Land das grösste Kontingent der Nicht-Nato-Truppen stellt.

Etwas anders präsentiert sich die Lage in Schweden, wie Calle Håkansson vom Swedish Institute of International Affairs ausführte. Noch um 1970 hätten die Verteidigungsausgaben bei rund 3% des BIP gelegen und seien später auf 1% geschrumpft. Bis 2025 würden die Schweden ihre Budgets aufgrund von russischen Bedrohungsszenarien wieder auf 1,5% ansteigen lassen. Das Engagement Schwedens für Pesco sei zwar lauwarm, dafür gebe es aufgrund der verhältnismässig bedeutenden schwedischen Rüstungsindustrie zahlreiche Kooperationen und Allianzen mit England, Frankreich und Deutschland.

Zur sicherheitspolitischen Lage der Schweiz referierte anschliessend der baselstädtische Regierungsrat Baschi Dürr, Vorstandsmitglied der Konferenz der Städtischen Sicherheitsdirektoren und Präsident des Polizeikonkordats Nordwestschweiz. Mit ihrem föderalen System der Sicherheitspolitik sei die überschaubare Schweiz bisher gut gefahren. Allerdings mache die Kriminalität vor den Landesgrenzen nicht halt, weshalb Dürr die herausragende Bedeutung von internationalen Kooperationen wie «Schengen» hervorstrich.

Botschafterin Pälvi Pulli, Chefin Sicherheitspolitik im VBS, beschloss das Programm des ersten Summit-Tages mit einer Keynote unter dem Titel «The Odd Animal in the Zoo: Swiss Security Policy». Die Schweiz sei durch ihre geografische Lage privilegiert, schickte sie voraus. Trotzdem müsse sie sich auf wechselnde Bedrohungen einstellen. Dabei sei Neutralität nicht zu verwechseln mit Neutralismus, auch schütze Neutralität nicht davor, in Konflikte hineingezogen zu werden. Die Schweiz verfüge über hohes wirtschaftliches und diplomatisches Gewicht. Speziell sei ihre dezentrale Entscheidungsfindung, das Rotationsprinzip in der Landesregierung sowie die direkte Demokratie, die dazu führe, dass Schweizerinnen und Schweizer sogar über die Beschaffung von Kampfflugzeugen abstimmen können – was Ben Hodges im Anschluss an den Vortrag zur Frage animierte, ob es tatsächlich denkbar sei, dass die Schweiz mit der Abstimmung ihre Luftverteidigung riskiere. – Die Antwort lautet kurz und knapp: Ja.

Sicherheit im Cyberspace

Nach dem auf den militärischen Komplex fokussierten ersten Tag wandte sich der Summit im zweiten Teil der Konferenz mehr virtuellen Sicherheitsfragen zu. Die eröffnende Keynote hielt OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger. Als erschwerenden Megatrend in der gegenwärtigen Sicherheitslandschaft adressierte der Schweizer Botschafter die Erosion des Multilateralismus zugunsten des Bilateralismus, den viele Staaten zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen. Erschwert würden internationale Verhandlungen durch eine zunehmend «öffentliche Diplomatie». Vor diesem Hintergrund biete die OSZE einen geschützten Rahmen für Diskussionen und schaffe Vertrauen. Es gehe darum, Risiken zu verkleinern sowie Konsens und Stabilität zu fördern.

Was jedoch passiert, wenn man trotz allen Vorsichtsmassnahmen Opfer einer Cyberattacke wird? Ria Thomas (Brunswick Group) schilderte drastisch die schwierige Lage von angegriffenen Unternehmen: Sie müssten sich nicht nur mit dem oft existenziellen realen Schaden auseinandersetzen, sondern hätten gleichzeitig mit Forderungen auf legaler, finanzieller, technischer und reputationeller Ebene zu kämpfen. Da eine Schadsoftware nicht vor Grenzen Halt macht, sind die Opfer ausserdem oft mit widersprüchlichen Regulierungen konfrontiert. Obwohl die Bekämpfung von Schadsoftware ein bekanntermassen grosses Problem darstelle, würden betroffene Firmen in der Öffentlichkeit selten als Opfer gesehen, sondern oft als Täter gebrandmarkt, die ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigt hätten.

Hilfe im Kampf gegen schwer erkennbare Cyberangriffe bietet künstliche Intelligenz, wie Hippolyte Fouque von Darktrace darlegte. Schlaue Algorithmen seien in der Lage, für Systemadministratoren unsichtbare Spuren im Dunkel des elektronischen Kosmos aufzuspüren und Angreifer abzuwehren, bevor sie Schaden anrichten. Künstliche Intelligenz finde Malware und sei in der Lage, andere Computer im Netz gegen den Angriff zu «impfen». Das Problem sei allerdings, dass sich inzwischen auch Angreifer ausgeklügelter Software bedienten. 

Krieg oder Kriminalität?

Dies konnte Jeffrey Bohn (Swiss Re Institute) nur bestätigen. Er betonte, wie wichtig es sei, Investitionen im Bereich Cybersicherheit zu erhöhen. Das Internet sei als Infrastruktur in Bereichen wie Finanzen, Mobilität oder Gesundheitswesen zentral. Aktuell würden Cyberrisiken zwar erst 2% aller Rückversicherungsprämien darstellen, längerfristig sei davon auszugehen, dass sie ebenso bedeutend werden wie Katastrophenprämien. Ein noch ungelöstes Problem für den Rückversicherer sei die Kumulation von Risiken im Falle einer pandemischen Ausbreitung eines Angriffs. Ungeklärt sei auch die Frage des Kriegsausschlusses von Risiken: Oft sei nicht klar, ob ein Angriff ein kriegerischer oder ein krimineller Akt darstellt.

Im Cyberspace gibt es auch keine Neutralität im klassischen Sinn, betonte Jon Fanzun vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. Von den Werten her betrachtet, gehöre die Schweiz zu den westlichen Ländern. Ausserdem spiele die Schweiz bei aller Kleinheit eine grosse Rolle im Cyberspace – nicht nur aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, sondern auch deshalb, weil viele internationale Institutionen in der Schweiz ihren Sitz haben.

Julia Schuetze (Stiftung Neue Verantwortung) zeigte sich skeptisch in Bezug auf die Handlungsfähigkeit der EU im Fall einer Cyberattacke. Vielen Ländern fehle noch eine eigene kohärente Strategie in diesem neuen Feld der Landesverteidigung, was ein gemeinsames Auftreten zusätzlich erschwere. Innerhalb Pesco gebe es zwar einige Initiativen, die Hauptlast der Bekämpfung von Cyberattacken liege jedoch weiterhin beim Privatsektor. 

Hintereingänge abschliessen

An zwei fesselnden Fallbeispielen zeigte Stefanie Frey (Deutor Cyber Security Solutions) auf, wie Hacker oft schlecht geschützte KMU als «Hintereingang» zu grösseren Netzwerken missbrauchen. In vielen Sicherheitsdispositiven würden vermeintlich unbedenkliche Partner oft vernachlässigt. So gesehen müssten auch scheinbar harmlose Partnerfirmen als «kritische Infrastruktur» betrachtet werden. Es brauche bei jeder Attacke ein Crime-Mapping, um die Kollateralschäden abzuschätzen.

Welchen Risiken kritische Infrastruktur ausgesetzt ist und was von staatlicher Seite getan wird, um sie abzuschirmen, erklärte Manuel Suter vom Informatiksteuerungsorgan des Bundes (ISB), das für die Umsetzung der Strategie zur Informations- und Kommunikationstechnik in der Bundesverwaltung zuständig ist. Es generiert Wissen und Kompetenzen, ist zuständig für Prävention und managt Cyberattacken.

In solchen Fällen sieht Stefan Brem vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz ein zweiteiliges Vorgehen für angebracht: Erstens brauche es klare Handlungsanweisungen und Tipps für Firmen im Fall einer Cyberattacke, zweitens eine Analyse der Risiken nach Sektoren. Immerhin: Bis dato habe es in Europa nur wenige Infrastrukturausfälle aus diesem Grund gegeben.

Die abschliessende Keynote hielt Rainer Mühlberger, Leiter Technology der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid. Er arbeitet mit der «grössten Maschine der Welt» – und dies ist wörtlich zu verstehen: Das europäische Stromnetz ist eine Einrichtung, die sich physisch über den ganzen Subkontinent erstreckt. Da Elektronen vor Landesgrenzen nicht Halt machen, seien internationale Kooperationen unerlässlich. Umso problematischer sei es, dass die Schweiz noch immer ohne Stromabkommen mit der EU auskommen muss. Dabei hänge die Stromversorgung in Europa bisweilen an einem seidenen Faden, bzw. an einem einzigen Draht, wie er eindrücklich ausführte. Und dies in einer Zeit, in der sich die IT des Systems einer wachsenden Zahl von Cyberangriffen ausgesetzt sehe.

Vermutlich hätten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung über Sicherheit gerne einen optimistischeren Ausblick in die Zukunft mit nach Hause genommen. Pascal Lago entliess sie immerhin mit der versöhnlichen Erkenntnis aus dem Summit, dass der Wille zur Zusammenarbeit auf dem europäischen Kontinent nicht nur bitter nötig, sondern bei sämtlichen Stakeholdern auch deutlich spürbar ist.

Publikation «Die Zukunft der Sicherheitspolitik in Europa» (in Englisch).