Fluktuierende Energien verdrängen in Deutschland immer häufiger die konventionellen Kraftwerke aus dem Markt. Obschon sich die Zweifel an einer nachhaltigen Funktionsfähigkeit des bisherigen Marktdesigns mehren, besteht keineswegs Konsens darüber, dass ein Kapazitätsmarkt zur Finanzierung konventioneller Back-up-Kraftwerke tatsächlich notwendig sein wird.
Gemäss dem deutschen Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) befinden sich derzeit 76 Kraftwerksprojekte mit einer Leistung von mindestens 20 MW in Planung oder Realisierung. Die addierte Leistung dieser Kraftwerke beläuft sich auf rund 38‘000 MW – das entspricht mehr als dem doppelten der gesamten Kraftwerksleistung in der Schweiz. Doch nur rund ein Drittel der Projekte befindet sich bereits in der Umsetzungsphase, also im Bau oder im Probebetrieb. Welcher Anteil der restlichen Projekte tatsächlich realisiert wird, ist aufgrund ihrer meist unsicheren Wirtschaftlichkeit unklar. Zu tief sind inzwischen die Preise im Stromgrosshandel, zu unsicher sind die Aussichten auf die längerfristigen marktlichen und regulatorischen Entwicklungen, etwa hinsichtlich der weiteren Förderung erneuerbarer Energien oder der Belastung des CO2-Ausstosses im Rahmen des CO2-Zertifikatehandels nach 2020.
Notwendige Back-up-Kapazitäten
Die Unsicherheit bezüglich neuer Kraftwerkskapazitäten ist in Deutschland besonders kritisch, da das Land zwischen 2015 und 2019 total 4000 MW und zwischen 2020 und 2022 weitere 8000 MW Kernkraftkapazitäten vom Netz nehmen wird. Konventionelle, steuerbare Kraftwerke braucht es aber auch in Zukunft, um Bedarfsspitzen und mangelnde Produktion fluktuierender Energien im Sinne eines Back-ups auszugleichen. Immer öfter fordern Verbände und Experten daher eine zusätzliche finanzielle Förderung für die Bereitstellung konventioneller Kraftwerke – also die Einführung eines Kapazitätsmechanismus bzw. Kapazitätsmarktes.
Im Gespräch mit Energieexperten verschiedener Ministerien, Energie- und Ökoinstituten kristallisiert sich jedoch keine einheitliche Meinung heraus. Der Austausch illustriert vielmehr, wie weit die Auffassungen über die Notwendigkeit und die Form eines Kapazitätsmarktes auseinandergehen. Auf der einen Seite wird ein Kapazitätsmechanismus geradezu als zwingende Voraussetzung angesehen, damit konventionelle Kraftwerke trotz eines rasant wachsenden Anteils erneuerbarer Energien auch künftig noch gebaut und betrieben werden. Schliesslich würden diese im Extremfall nur noch wenige Stunden pro Jahr eingesetzt – was unter den heutigen Marktbedingungen kaum rentieren könnte. Dieses Argument unterstellt jedoch pauschal, dass sich in diesen wenigen Stunden keine besonders hohen Preise (sog. Knappheitspreise) einstellen könnten, die ausreichende Investitionsanreize vermitteln würden.
Auf der anderen Seite argumentieren die Gegner der Kapazitätsmärkte, dass die nachhaltige Finanzierung konventioneller Anlagen ganz einfach über den Terminmarkt sichergestellt werden könnte. Schliesslich würde ohnehin ein Grossteil der Versorger und Grossverbraucher ihren Bedarf über den längerfristigen Terminmarkt decken – eben gerade aus Angst vor einer Angebotsknappheit im kurzfristigen Markt. Dabei seien sie bereit, im Terminmarkt systematisch mehr zu bezahlen als im kurzfristigen Spotmarkt. Doch auch dieses Argument steht auf wackeligen Beinen. Schliesslich kann ein Verbraucher, der sich im Terminmarkt mit Strom eindeckt, keine höhere Versorgungssicherheit einkaufen als sein Nachbar am selben Netz, der seinen Strom im Spotmarkt beschafft. Von einem Stromausfall aufgrund von Angebotsknappheit wären beide Akteure gleichzeitig betroffen. Ein rationaler Stromverbraucher würde in dieser Situation Trittbrettfahren und seinen Strom am günstigeren Spotmarkt beziehen – für die Versorgungssicherheit würden dann die anderen Verbraucher über die höheren Preise im Terminmarkt zahlen.
Entscheidung erst in zwei Jahren
Soviel zur Theorie. In der Praxis führt die Uneinigkeit zwischen den Experten dazu, dass auf absehbare Zeit – und vor allem vor den Wahlen – keine Entscheidung über Einführung und Form eines Kapazitätsmarktes gefällt wird. Vielmehr behilft sich die deutsche Bundesregierung mit einem Übergangsgesetz bis 2017. Ziel dieses vor kurzem verabschiedeten Gesetzes ist die Verhinderung der Abschaltung alter Anlagen. Künftig müssen die Betreiber von Anlagen eine allfällige Ausserbetriebnahme bereits ein Jahr zuvor dem Regulator melden. Sollte ein Kraftwerk für die Erhaltung der Systemstabilität relevant sein, kann der Regulator den weiteren Betrieb quasi hoheitlich anordnen – gegen eine finanzielle Entschädigung für den Betreiber. Offensichtlich lässt eine solche Regel gewissen Spielraum für strategische Abschaltdrohungen und damit verbundene Mitnahmeeffekte. (Etwa wenn ein Kraftwerk auch ohne zusätzliche Subventionen weiterbetrieben würde). Im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie will man immerhin bis 2015 eine Entscheidung über die Einführung und Form eines Kapazitätsmarktes gefällt haben. Für die Schweiz wird diese Entscheidung nicht irrelevant sein.
Auf Einladung des Auswärtigen Amtes reiste Urs Meister, Projektleiter und Mitglied des Kaders von Avenir Suisse, während fünf Tagen durch die deutsche Energiewende. In einer kleinen Blog-Serie berichtet er über seine Eindrücke.
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Die vagen Ziele der deutschen Energiewende