In den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres sanken die nominellen Preise in den Marktgebieten Schweiz und Deutschland etwa auf das Niveau von 2007. Mindestens ein Teil des seit 2011 anhaltenden Preiszerfalls dürfte auf die wachsende Einspeisung subventionierter erneuerbarer Energien zurückzuführen sein. Weil die Schweiz im Grosshandel die Preise ihrer Nachbarländer übernimmt, sind auch die inländischen Stromproduzenten vom preisdämpfenden Einfluss der deutschen Energiewende betroffen. Einige Schweizer Politiker fordern nun Subventionen für die heimische Wasserkraft. Ungeachtet grundsätzlicher Zweifel über den Nutzen eines solchen Subventionswettlaufs ist es sinnvoll, den Einfluss dieses preisdämpfenden Effekts auf die Schweiz etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Preisunterschied von 1o € pro Megawattstunde
Auch wenn erneuerbare Energien teuer sind, dämpfen sie die Preise im Grosshandel. Da sie mit Subventionen gefördert werden, spielen tiefe Marktpreise bei der Investitionsentscheidung keine Rolle. Und weil Technologien wie Windkraft und Photovoltaik (PV) keine variablen Produktionskosten aufweisen, verkaufen sie ihren Strom bei jedem (positiven) Preisniveau. Viel Wind oder Sonne erhöht daher das Stromangebot am Markt, wodurch das Preisniveau sinkt (sog. Merit-Order-Effekt, siehe Box).
Was ist der Merit-Order-Effekt?
Die wachsende Produktion subventionierter Erneuerbarer schiebt die Stromangebotskurve parallel nach rechts aussen. Lässt man die Nachfrage konstant, schneidet diese die ansteigende Angebotskurve auf einem tieferen Niveau – der gleichgewichtige Marktpreis sinkt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Merit-Order-Effekt. Das Ausmass des Effekts hängt von zwei Parametern ab: der Menge der eingespiesenen erneuerbaren Energie sowie der Steilheit der Angebotskurve (sog. Merit Order). Die Angebotskurve ihrerseits wird durch die Struktur der variablen Kosten der Kraftwerke bestimmt: Je heterogener der Kraftwerkspark und je höher die variablen Kosten der fossilen Kraftwerke (z.B. aufgrund hoher Gas- und CO2-Preise), desto steiler ist die Angebotskurve. Das bedeutet: Je höher die Kosten fossiler Kraftwerke, desto steiler ist die Angebotskurve und desto grösser ist der Merit-Order-Effekt für eine gegebene Menge erneuerbarer Energie.)
Um den durchschnittlichen Merit-Order-Effekt zu berechnen, muss die mittlere Einspeisung von PV und Wind jeweils mit einem (statistisch ermittelten) Koeffizienten multipliziert werden, der die Neigung der Angebotskurve spiegelt. Schätzungen für den deutschen Markt beziffern den gesamten durch PV und Windenergie ausgelösten Merit-Order-Effekt auf etwa 8€ bzw. 10€/MWh in den Jahren 2011 und 2012 – bei durchschnittlichen Marktpreisen von 51€ bzw. 43€/MWh. Mit der wachsenden Einspeisung von Wind und PV dürfte sich dieser Zusammenhang intensivieren. Verwendet man sehr vereinfachend für die ersten sieben Monate 2013 und 2014 dieselben Koeffizienten wie für 2012 und kombiniert sie mit der effektiven Wind- und PV-Produktion in diesen Perioden, dann resultiert ein Effekt von rund 10€ bzw. 12€/MWh (bei durchschnittlichen Preisen von 37€ bzw. 32€).
Keine lineare Beziehung
Über den internationalen Stromhandel «exportiert» Deutschland diesen Preisdruck auf den Schweizer Markt – das freut die Konsumenten, nicht aber die Produzenten. Die Bedeutung des Merit-Order-Effekts muss aber gerade für die Schweiz relativiert werden:
- Einfluss anderer preissenkender Effekte: Auch wenn man den Merit-Order-Effekt für die Jahre 2012 bis 2014 ausklammert, bleiben die Marktpreise relativ deutlich unter dem Niveau von 2008 (siehe Abb.). Entscheidend für die Preiserosion waren vor allem tiefere Preise für fossile Energien und CO2-Zertifikate sowie ein geringerer Stromverbrauch. 2013 lag der deutsche Bruttostromverbrauch 3% unter dem Niveau von 2008. Nach einem krisenbedingten Tiefstwert im Jahr 2009 stieg er 2010 wieder, sank danach aber kontinuierlich. Auch im ersten Halbjahr 2014 nahm der deutsche Bruttostromverbrauch nochmals ab (vor allem der milden Witterung wegen).
- Merit-Order-Effekt ist nicht neu: Daneben muss beim Preisvergleich berücksichtigt werden, dass bereits 2008 ein Merit-Order-Effekt existierte. Interessanterweise dürfte dieser ähnlich gross gewesen sein wie 2012/2013 – auch wenn nur der Wind-Einfluss gemessen wurde und die Windproduktion 2008 sogar tiefer lag. Der überraschend grosse Merit-Order-Effekt 2008 lässt sich auf die damals steilere Angebotskurve zurückführen, die ihrerseits das Resultat der höheren Preise für fossile Energien sowie für CO2-Zertifikate war. In eine ähnliche Richtung wirkte der grössere Stromverbrauch. Dadurch schnitt 2008 die Nachfragekurve das Angebot weiter rechts, also in ihrem steileren Bereich. 2012/2013 bestimmten vor allem Kraftwerke des mittleren Kostensegments den Marktpreis.
- Nur partieller Einfluss der deutschen Preise: Die Schweizer Strompreise werden häufig durch das deutsche Preisniveau beeinflusst, aber nicht immer. In den Wintermonaten, wenn die Schweiz zum Stromimporteur wird, resultiert im Norden ein Netzengpass, der den Handel mit Deutschland einschränkt und dazu führt, dass die Schweiz das deutlich höhere italienische Preisniveau übernimmt. Als Folge davon liegen die Grosshandelspreise in der Schweiz über jenen Deutschlands (vgl. Abb.). Im Winter übernimmt die Schweiz den deutschen Merit-Order-Effekt also weniger häufig und weniger ausgeprägt. Und weil im Winterhalbjahr die Produktion der Windkraft ausgeprägt ist, dürfte für den Schweizer Markt vor allem der Einfluss der deutschen PV relevant sein. In den ersten 7 Monaten 2014 lag der PV-spezifische Effekt etwas unter 6€/MWh (2012 und 2013 zwischen 4€ und 5€). Natürlich müsste man umgekehrt einen während der Wintermonate aus Italien importierten Merit-Order-Effekt berücksichtigen. Doch ist dieser wegen des geringeren Anteils erneuerbarer Energien tiefer als in Deutschland. Und schliesslich dürfte der italienische Merit-Order-Effekt aufgrund des hohen PV-Anteils vor allem im Sommer ausgeprägt sein, wenn die Schweiz ohnehin die tieferen deutschen Preise übernimmt.
Bei den Diskussionen um neue Subventionen in der Schweiz muss daher berücksichtigt werden, dass sich der deutsche Merit-Order-Effekt im Umfang von 10€ bis 12€/MWh nicht einfach auf den Schweizer Markt überträgt. Auch würde eine finanzielle Kompensation des importierten Merit-Order-Effekts nicht automatisch dazu führen, dass neue Anlagen wirtschaftlich betrieben werden könnten. Die geschätzten Gestehungskosten neuer bzw. ausgebauter Grosswasserkraftwerke liegen zwischen 70 Fr und 300 Fr./MWh (im Durchschnitt bei rund 140 Fr. /MWh) –und damit weit höher als 10€/MWh über den aktuellen Marktpreisen.