Fragen um die «gerechte» bzw. gleichmässige Verteilung von Einkommen und Vermögen beherrschen derzeit die wirtschaftspolitische Agenda. Angefangen hat es mit der Abzocker-Initiative – und ungleich Verheerenderes befindet sich mit der 1:12- sowie der Mindestlohn-Initiative in der Pipeline. Da lohnt sich ein Blick auf die Fakten. Wie steht es um die Schweiz und die Verteilung in diesem Land? Der erste Eindruck ist überraschend. Die Schweiz ist bekanntlich ein Land des Ausgleichs. Und ausgerechnet in diesem Land des Zusammenhalts, des Konsenses, auch der Solidarität, ist die Umverteilung eine der niedrigsten weltweit. Das zeigt die wirtschaftspolitische Grafik dieses Monats in ihrem oberen Teil. Dort wird anhand der Reduktion des sogenannten Gini-Koeffizienten abgebildet, wie stark die Umverteilung ist. Nur in Südkorea und in Island fällt die Umverteilung noch etwas schwächer aus. Selbst in den kaum als Umverteilungshochburg geltenden USA ist sie deutlich stärker. Unter den Nachbarländern der Schweiz ist sie in Deutschland und in Italien mehr als doppelt, in Frankreich und Österreich sogar ungefähr dreimal so hoch.
«Gleicher» als Deutschland
Die Grafik zeigt aber auch, warum das so ist: In kaum einem Land ist die Verteilung der Markteinkommen (Löhne, Kapitaleinkommen, Mieteinnahmen), bevor der Staat umverteilend eingreift, so gleichmässig wie in der Schweiz. Das zeigen die Balken unterhalb der Null-Linie. Je länger der Balken, je höher also der Gini-Koeffizient ist, desto ungleicher ist die „Primärverteilung“. Von den dargestellten Ländern weist nur Korea eine gleichmässigere Primärverteilung auf, alle anderen schneiden «schlechter» ab (sofern man ungleicher per se als schlechter ansehen wollte, was eine fragwürdige Gleichsetzung wäre). Mit anderen Worten besteht in allen anderen Ländern ein grösserer Umverteilungsbedarf, sofern man mehr Gleichheit anstrebt oder die untersten Schichten über ein bestimmtes Niveau heben möchte. Und weil die Primäreinkommen in der Schweiz gleichmässig verteilt sind, ist trotz der geringen Umverteilung auch die Verteilung der Netto-Einkommen in der Schweiz gleicher als etwa in Deutschland, Frankreich oder Italien, wo überall mehr umverteilt wird.
Die relative Gleichmässigkeit der Einkommensverteilung wird durch andere Statistiken bestätigt. So erhielten 2010 bei den Arbeitseinkommen die obersten 10% in der Schweiz brutto 2,7mal mehr als die untersten 10%. In den USA lag diese Verhältniszahl bei 5,0, in Grossbritannien bei 3,6. Auch in Deutschland und Österreich lag sie deutlich höher, darunter (allerdings nicht sehr stark) lag sie, von den Ländern, für die Daten vorliegen, nur in Finnland, Norwegen, Schweden, Belgien und Italien (wo der Wert mit etwas über 2,2 am niedrigsten ist). Und der Wert ist seit 1996 relativ stabil geblieben. Damals war ein Faktor von 2,4 verzeichnet worden. Diese Stabilität gilt übrigens auch, wenn man nur das oberste 1% der Arbeitseinkommen betrachtet. Dieses hat in der Schweiz, im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, seinen Anteil seit 1990 kaum gesteigert, ja der Anteil ist sogar seit 1930 mit leichten Schwankungen gleich geblieben. Einzig beim obersten Promille sieht es etwas anders aus, allerdings verlief die Entwicklung in der Schweiz deutlich verhaltener als in den USA.
Fragt man anders herum, wie viel Prozent der Bevölkerung es relativ schlecht geht, nämlich wie viel Prozent der Arbeitnehmer brutto weniger als 2/3 des (in der Schweiz sehr hohen) Medianeinkommens verdienen, stellt man fest, dass dies nur gut 9% sind, nicht nur markant weniger als in vielen vergleichbaren Ländern, sondern auch rund 4 Prozent weniger als im Jahr 2000. In den USA liegt der Anteil bei rund 25%, in Deutschland ist er mit 18% doppelt so hoch wie in der Schweiz (und 3 Prozentpunkte höher als vor zehn Jahren), in Österreich bewegt er sich in ähnlichen Gefilden (16%).
Übersehene Vermögenswerte
Nun wird von Freunden der Umverteilung oft eingewandt, man konzediere zwar eine gewisse Gleichmässigkeit der Einkommen, aber schlimm sei es um die Vermögensverteilung bestellt. In der Tat verleitet der erste Blick auf die Statistiken zu einem falschen Urteil. Gemäss den Steuerdaten haben nämlich fast 60% der Steuerpflichtigen kein Reinvermögen oder eines von weniger als 50000 Fr. Diese Zahlen berücksichtigen aber das in der 2. und 3. Säule angesparte Kapital ebenso wenig wie die Marktwerte der Immobilien. Letztere gehen oft um die Hälfte oder mehr unter dem Marktwert in die Statistik ein. Somit werden die zwei wichtigsten Vermögenswerte privater Haushalte in der Statistik ignoriert oder stark untergewichtet: würde man die Vermögensstatistik um diese Unsauberkeiten bereinigen und zudem statt steuerpflichtiger Individuen eher Haushalte als Bezugsgrössen wählen, stellte man fest, dass mehr als ein Fünftel (22%) der Haushalte in der Schweiz über Vermögen von mehr als 1 Mio. Fr. verfügen. Weltweit liegen nur Singapur und Hongkong darüber.
Die Quintessenz ist offensichtlich: In der Schweiz wird nicht deswegen so wenig umverteilt, weil das Land besonders unsensibel gegenüber Ungleichheit ist, sondern weil diese Ungleichheiten auch ohne staatliche Umverteilung gering sind. Der im Vergleich relativ liberale Arbeitsmarkt produziert per se nicht mehr, sondern weniger Ungleichheit. Und wenn man die wichtigsten Vermögenswerte nicht ausblendet, verfügen in der Schweiz auch ungewöhnlich viele Haushalte über Real- und Geldvermögen von zusammen mehreren hunderttausend Franken.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. April 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.