Die hier präsentierten Grafiken wirken unspektakulär. Doch in den Säulendiagrammen steckt eine Fülle bedenkenswerter wie bedenklicher Informationen. Es geht um verbilligte Krankenkassenprämien. Das Krankenversicherungsgesetz von 1996 verlangt in Art. 65, Abs. 1, die Prämien von Versicherten in «bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen» durch Bundes- und Kantonsbeiträge zu stützen. Zudem müssen die Kantone für «untere und mittlere Einkommen» Prämien der Kinder und jungen Erwachsenen in Ausbildung um mindestens 50% verbilligen.
Grosse Unterschiede
Für diese Prämienverbilligungen gab die öffentliche Hand 2012 immerhin 4,2 Mrd. Fr. aus; 1996 waren es 1,5 Mrd. Fr. gewesen. Nutzniesser waren 2012 gut 2,3 Mio. Personen oder 29% der Versicherten, gegenüber 23% im Jahr 1996. Die entscheidende Frage lautet natürlich, welche Einkommensverhältnisse als bescheiden und, damit verknüpft, welche Belastung durch die Prämienzahlungen als zumutbar gelten können.
Die obere Grafik zeigt, dass die Belastung ohne Verbilligung bei den ärmsten 25% der Haushalte im Durchschnitt stark variieren würde, zwischen 12% des verfügbaren Einkommens (Nettoeinkommen nach Steuern und zuzüglich aller Formen der Sozialhilfe) in Appenzell Innerrhoden bzw. Nidwalden und 21% in Basel-Stadt. Das ist in einem föderalistischen Land nicht verwunderlich, sondern Ausdruck des erwünschten Systemwettbewerbs.
Erstaunlich ist aber, welche Belastungen die einen Kantone als zumutbar ansehen und die anderen mit zum Teil massiven Verbilligungen nach unten drücken. Würden in allen Kantonen jene 16% Belastung durch Krankenkassenprämien, die in der Waadt herrschen, als Limite angesehen, müssten nur 9 der 26 Kantone und Halbkantone Prämienverbilligungen vornehmen. In allen anderen Gliedstaaten liegt die Belastung vor Prämienverbilligung tiefer als die oder gleichauf mit der Belastung in der Waadt nach der Prämienverbilligung. Man schirmt hier zu viele Leute vor den hohen Kosten und der Kostenexplosion im Gesundheitswesen ab. So wird die Prämienbelastung im Kanton Zug mehr als halbiert und auf 5% des verfügbaren Einkommens gedrückt.
Extrem starke Belastungsreduktionen zwischen fast 60% und knapp 45% werden auch noch in Obwalden, Ausserrhoden, im Wallis, in Graubünden, Solothurn und Freiburg gewährt. Die grösste «absolute» Differenz zwischen der Belastung vor und nach Verbilligung weist Basel-Stadt mit 9 Prozentpunkten auf. Doch die Grosszügigkeit beschränkt sich nicht auf die ärmsten Haushalte. Auch Medianhaushalte, deren Bruttoeinkommen von der Hälfte der übrigen Haushalte unter- und von der anderen Hälfte überschritten wird, werden in 18 Kantonen subventioniert. Nur 8 Kantone, darunter Zürich, Bern und St. Gallen, haben die Weisheit, in der Mitte der Gesellschaft dem Prinzip der Selbstverantwortung nachzuleben.
Das ist auch deswegen sinnvoll, weil der Mittelstand sonst weitgehend die Verbilligung mit Steuermitteln indirekt selbst finanziert. Würden sich die Kantone Bern zum Vorbild nehmen, müsste nur gerade Basel-Stadt eine minime Verbilligung vornehmen. Alle anderen Kantone liegen vor der Prämienverbilligung – und nach ihr erst recht – unter dem Niveau von Bern. Vier Kantone (NW, UR, LU und TG) gewähren sogar noch im dritten Quartil, im oberen Mittelstand, Prämienverbilligungen.
Umverteilen statt versichern
Die Quintessenz der Grafiken ist vielfältig. Erstens lassen die selbst für ein föderalistisches Land grossen Unterschiede vermuten, in einzelnen Kantonen werde zu grosszügig subventioniert. Zweitens sind die Prämienverbilligungen so hoch, dass sie die gefühlte Prämienhöhe fundamental verändern. Das untergräbt, drittens, das Prinzip der Selbstverantwortung, wo Gesundheitskosten nur zum kleineren Teil von den Versicherten direkt getragen werden. Viertens führt die Verbilligung dazu, dass die Krankenkassenprämien de facto einkommensabhängig werden, also Personen mit geringem Risiko und hohem Einkommen unter Umständen sehr viel zahlen, solche mit hohem Risiko und niedrigem Einkommen hingegen fast gar nichts; das ist Umverteilung statt Versicherung.
Das erinnert, fünftens, an die Regel des ersten Nobelpreisträgers der Ökonomie, Jan Tinbergen, wonach man mit einem Instrument nie zwei Ziele gleichzeitig verfolgen sollte. Da, sechstens, im Mittelstand viele Haushalte einen bedeutenden Anteil der bezahlten Steuern in Form von Prämienverbilligungen und Krippensubventionen zurückerhalten, wäre es klüger, Prämienverbilligungen und Steuern gleichzeitig zu senken. Schliesslich ist, siebtens, fast am wichtigsten, dass die Breite der Unterstützung bis hinauf zum oberen Mittelstand bedeutet, dass am Schluss das Geld für jene fehlt, die wirklich der helfenden Hand des Staates bedürften. So bewirkt ein gutgemeintes Instrument wegen Überstrapazierung das Gegenteil dessen, was es hätte erreichen sollen.
Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 30. Mai 2015. Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.