Die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP bezweckt den Vorrang der Schweizer Bundesverfassung vor internationalen Verträgen. Und sie verlangt, dass bestehende völkerrechtliche Verträge im Konfliktfall neu verhandelt oder gekündigt werden müssen. Die Folgen dieser Volksinitiative für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren das Thema einer gemeinsamen Veranstaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) und Avenir Suisse an der Universität Bern.

Pacta sunt servanda

Helen Keller, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, erläuterte zum Auftakt der Veranstaltung den juristischen Kontext am Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die von der Schweiz 1974 ratifiziert wurde. Weil die Schweizer Bundesverfassung kaum Vorgaben zum Völkerrecht macht, ist es der Justiz – konkret dem Bundesgericht – überlassen, den Konflikt im Einzelfall zu lösen.

Laut Helen Keller gab es in den gut 40 Jahren seit der Übernahme der EMRK lange Phasen ohne Umsetzungsprobleme, und das Bundesgericht interpretierte die Verfassung zumeist völkerrechtsfreundlich. Konfliktgeladener wurde die Rechtslage erst, als in den letzten Jahren einzelne Verfassungsänderungen in direktem Widerspruch zur EMRK standen (z.B. die Ausschaffungsinitiative).

Wenn die Schweiz die rechtliche Stabilität nicht mehr garantieren könne, werde dadurch ein langjähriger traditioneller Wettbewerbsvorteil gefährdet, sagte Felix R. Ehrat an der Aula-Veranstaltung an der Universität Bern. (SGA-ASPE)

Die Selbstbestimmungsinitiative ist de facto der Versuch, die Rolle des Bundesgerichts als Streitschlichter in internationalen Rechtsfragen zu beschneiden und stattdessen die Bundesverfassung als «oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft» (Initiativtext) zu installieren. Die neue Regelung wäre zudem eine Kehrtwende gegenüber der bisherigen Rechtspraxis, bei der es dem Bundesgericht zusteht, den Vorrang einzelner Normen aus dem Völkerrecht gegenüber dem Landesrecht je nach ihrer Bedeutung festzulegen. Nach der Annahme der Initiative könnten Einzelbestimmungen aus der Bundesverfassung («Schoggiartikel») ganze Vertragswerke (z.B. WTO) aushebeln.

Helen Kellers Schlussfolgerung ist eindeutig: Die Annahme der Initiative würde in der Schweiz und im Ausland grosse Unsicherheit auslösen, weil damit der Fortbestand Tausender Rechtsnormen in Frage gestellt würde. Besonders problematisch wäre der Bruch mit der weltweiten Rechtstradition «Pacta sunt servanda»: Diese besagt, dass Verträge ab dem Moment des Inkrafttretens die Vertragsparteien dauerhaft verpflichten. Gerade ein kleines, vernetztes Land wie die Schweiz sei darauf angewiesen, seine Interessen im Rahmen von Verträgen wahren zu können – und deren Einhaltung einzufordern.

Eine weitere, nicht zu unterschätzende Auswirkung einer angenommenen Selbstbestimmungsinitiative wäre ihre mögliche internationale Ausstrahlung: Als Mitglied des Europarats geniesst die Schweiz den Ruf eines verlässlichen und  hochrespektierten Partners. Was wäre das Signal, wenn sich eine der ältesten Demokratien plötzlich von der EMRK abwendet? 

Panel-Teilnehmer der Veranstaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) und Avenir Suisse an der Universität Bern: Patrick Dümmler, Felix R. Ehrat, Helen Keller und Markus Mugglin (v.l.n.r.) (SGA-ASPE)

Unternehmen brauchen Stabilität

Doch die Auswirkungen der Selbstbestimmungsinitiative beschränken sich nicht alleine auf völkerrechtliche Fragestellungen, wie Felix R. Ehrat, Mitglied der Novartis-Geschäftsleitung, ausführte:  «Globale wirtschaftliche Vernetzung und völkerrechtliche Einbindung bedingen sich gegenseitig.» Das Grundbedürfnis aller Unternehmen sei ein verlässlicher Ordnungsrahmen, der beim Wirtschaften Voraussehbarkeit gewährleiste. In besonderem Masse gelte dies für internationale Konzerne mit langen Investitionszyklen. Mit gutem Grund habe die Schweiz im Verhältnis zur Bevölkerung einen der höchsten Anteile an multinationalen Unternehmen.

Wenn die Schweiz die rechtliche Stabilität nicht mehr garantieren könne, werde dadurch ein langjähriger traditioneller Wettbewerbsvorteil gefährdet. Sobald das Land damit beginne, sich aus dem System des Welthandels zu desintegrieren, wäre dies mit Wohlstandsverlusten verbunden. Der Novartis-Chefjurist erinnerte daran, dass jeder Arbeitsplatz bei einem «Multi» im Durchschnitt 1,5 weitere Stellen in der Schweiz generiert; in der Pharmaindustrie seien es sogar 3 Stellen. Er betonte: «Wir brauchen die Sicherung des Weges, der uns dahin geführt hat, wo wir heute sind.» Die Selbstbestimmungsinitiative sei deshalb abzulehnen, weil sie diesen Weg gefährde.

Eine wichtige Aufgabe für das Parlament

Bis der Souverän über die Volksinitiative entscheidet, vergeht noch viel Zeit, die für die Aufklärung der Stimmbürger eingesetzt werden kann. Gret Haller, ehemalige Nationalrätin und Präsidentin der SGA, betonte in ihrem Abschlussstatement die zentrale Rolle einer ausführlichen parlamentarischen Debatte im Vorfeld der Abstimmung. «Das Volk hat ein Recht, die Meinung des Bundesrats und der Parteienvertreter zu erfahren».

Die nächste Veranstaltung von SGA und Avenir Suisse findet am 18. April 2018, wiederum um 18.15 Uhr in der Aula der Universität Bern statt. Anmeldung hier.