Ungleichheit wird meist auf Basis von Momentaufnahmen diskutiert. Zwei Aspekte bleiben dabei zu wenig beachtet: Es liegt zum einen in der Natur von Erwerbsbiografien, dass sich Einkommen im Laufe eines Arbeitslebens entwickeln. Vom Studenten mit Nebenjob zum Berufseinsteiger, zur Fachkraft und zum Rentner etwa. Das heisst, Einkommen werden immer ungleich verteilt sein, aus dem simplen Grund, weil nicht alle gleich alt sind. Zum anderen ist es nicht nur entscheidend, wie hoch die Ungleichheit ist, sondern wie dynamisch die Gesellschaft und wie mobil die Einkommen dahinter sind: Wenig Ungleichheit und keine gesellschaftliche Mobilität wäre kaum mit einer freiheitlichen Gesellschaft vereinbar; hohe Ungleichheit bei hoher gesellschaftlicher Mobilität dagegen eher.
Gesellschaftliche Mobilität wird oft anhand von zwei Ansätzen messbar gemacht. Zum einen als intergenerationelle Mobilität (d.h. als Bildungsvererbung, wie. z.B. hier, oder mit Zahlen zu Einkommen im Generationenvergleich), zum anderen als intrapersonelle Mobilität. Nur diese letztgenannte Entwicklung der Einkommen im Lebensverlauf wird nachfolgend besprochen. Im Fokus steht die Frage, ob es Menschen mit tiefen Einkommen nach oben schaffen, und ob hohe Einkommen auch wieder hinunterfallen können. Etwas überspitzt formuliert, geht es also darum, ob der Tellerwäscher zum Millionär werden kann und der Millionär auch wieder zum Tellerwäscher. Im Sinne einer durchlässigen Gesellschaft ist ein gewisses Mass an Mobilität wünschenswert.
Die Datenlage zu dieser Frage ist für die Schweiz dürftig, besonders, was Zahlen aus der jüngeren Vergangenheit anbelangt. Die nachfolgend verwendeten Daten von Eurostat sind da eine Ausnahme und lassen zumindest eine Analyse der kurzen Frist zu. Basis ist die europaweit durchgeführte Umfrage silc (mehr zu den Daten am Ende des Textes). Die untenstehende Grafik zeigt, welcher Teil der Bevölkerung im schweizweiten Vergleich nach einem Jahr in eine höhere oder tiefere Einkommensklasse auf-, bzw. absteigt. Dabei wird die Bevölkerung entsprechend der Höhe ihres Einkommens in zehn gleich grosse Gruppen (Dezile) eingeteilt. Für jedes dieser Dezile stellt die Grafik nur dar, welcher Anteil in der ursprünglichen Einkommensschicht verblieben ist, welcher Anteil ein oder mehrere Dezile aufgestiegen ist, bzw. welcher Anteil der Personen ein oder mehrere Dezile abgestiegen ist. Dazu ein Lesebeispiel: Im ersten Dezil der untersten Einkommensschicht sind 2016 rund 21% der Personen ins zweite Dezil aufgestiegen, 23% stiegen bis mindestens ins dritte Dezil auf und 56% haben ihre Position nicht verändert. Absteigen konnte an dieser Position per Definition niemand.
Am oberen Ende der Verteilung scheint es in der hier dargestellten kurzen Frist eine gewisse Persistenz zu geben. 70% der Bevölkerung im 10. Dezil können sich halten. Das ist mehr als in jeder anderen der Einkommensschichten. Auf der anderen Seite der Verteilung sind es die untersten Einkommen, bei denen die höchste Aufwärtsmobilität herrscht. Fast ein Viertel steigt bereits innerhalb von einem Jahr um mindestens zwei Dezile auf. Zusammen mit jenen, die um ein Dezil aufsteigen (21%) zeigt sich so für fast die Hälfte dieser Einkommensschicht eine Aufwärtsmobilität. Diese hohe Aufwärtsmobilität liegt natürlich auch daran, dass es ganz unten zumindest nicht mehr schlechter werden kann. Die höchste Mobilität nach unten besteht im oberen Mittelstand (7. Dezil). Mehr als ein Fünftel verliert im Einkommensvergleich innert Jahresfrist mindestens zwei Dezilränge.
Aufwärts von ganz unten
Die nachfolgenden beiden Grafiken stellen die Schweizer Daten in einen internationalen Kontext. Die erste Abbildung vergleicht den Anteil jener aus der ärmsten Einkommensschicht (1. Dezil), die nach einem und nach drei Jahren aus dieser Position aufgestiegen sind. Mit einem Anteil von «Aufsteigern» von 44% (nach einem Jahr), bzw. sogar deutlich über 50 % nach drei Jahren reiht sich die Schweiz in diesem Vergleich unspektakulär in der Mitte ein. Der Anteil der Aufsteiger nach einem und nach drei Jahren ist höher als zum Beispiel in Frankreich und Deutschland, aber tiefer als in Österreich (nach drei Jahren) oder dem Vereinigten Königreich.
Relevant ist auch, ob Mobilität in die obersten Einkommensschichten möglich ist. Das zeigt die dritte Grafik. Für Personen aus dem oberen Rand der Mittelschicht (8. Dezil) wird darin der Anteil jener abgetragen, die aus dieser Position nach einem (schwarz), bzw. nach drei Jahren (rot) noch weiter aufgestiegen sind. In der Schweiz sind es rund ein Viertel (nach einem Jahr), bzw. rund 40% nach drei Jahren. Im internationalen Vergleich besteht damit eine relativ ausgeprägte Einkommensmobilität – vor allem in Anbetracht dessen, dass Bilderbuch-Sozialstaaten wie Schweden oder Dänemark tiefere Aufstiegsanteile aufweisen. Damit zeigt sich das Entscheidende: Es gibt viele Faktoren, die dazu beitragen, dass in einer Gesellschaft Dynamik und nicht Verkrustung herrscht. Wer dagegen meint, ein grösserer Sozialstaat würde es schon richten, täuscht sich ganz offensichtlich.
Daten: Die Abbildungen basieren auf Daten der silc (silc, statistics on income and living conditions). Die Stichprobe für die Schweizer dieser europaweiten Umfrage entspricht rund 18’000 Personen (8000 Haushalte). Die hier verwendete Variable zur relativen Einkommensentwicklung wird in den aggregierten Daten von Eurostat nur für die Jahre 2010 und 2013 bis 2016 ausgewiesen. Über längerfristige Trends lässt sich mit diesem kurzen Zeitraum wenig aussagen. Wie immer bei umfragebasierten Zahlen sollten geringfügige Veränderungen und Unterschiede aufgrund von Messfehlern nicht überbewertet werden.