Vier Wochen vor den eidgenössischen Wahlen zum National- und zum Ständerat ist es durchaus opportun, sich Gedanken zu machen über den Zusammenhang von politischem System und wirtschaftlichem Wohlergehen. Wir konzentrieren uns dabei auf die Zusammensetzung des Bundesrates, die in ihrer Stabilität weltweit einzigartig ist und schon für sich allein, also jenseits von Neutralität, direkter Demokratie, Föderalismus und Gemeindeautonomie, die Bezeichnung «Sonderfall» für die Schweiz rechtfertigt.

Eine deutliche Mehrheit

Die Grafik zeigt, dass in der Schweiz der Bundesrat die meiste Zeit seit der Gründung des Bundesstaates von 1848 drei Viertel oder mehr des Nationalrates und damit der Bevölkerung repräsentierte. Noch beeindruckender ist es, wenn man die Bundesversammlung zum Massstab nimmt. Dann stellen zeitweise die im Bundesrat vertretenen Parteien über 90% der Parlamentarier beider Räte. Die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung veränderte sich zwar sehr wohl, wenn auch langsam, aber als Konstante blieb, dass die Regierung in ihrer Zusammensetzung eigentlich nie nur eine knappe Mehrheit vertrat. Das ist ein erstes, wichtiges Element von Stabilität.

Dazu kam, dass diese Mehrheit lange Zeit von einer Partei allein erreicht wurde und bis zur Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat nie mehr als vier Parteien umfasste. Wie mühsam müssen dagegen doch in anderen Ländern oft – manchmal unter Einbezug von Kleinstparteien – Koalitionen geschmiedet werden, die so auf Messers Schneide stehen, dass sie schliesslich doch nicht lange halten. Deshalb liegt in der lange Zeit gleichen, auf relativ wenigen und (ausser derzeit) ausschliesslich mittleren bis grossen Parteien ruhenden Zusammensetzung des Bundesrates ein zweites, oft übersehenes Element von Stabilität.

Und ein drittes Element ist wohl in der langen, ununterbrochenen Amtsdauer vieler Bundesräte zu suchen. Man mag sich über die Sesselkleber ärgern, weil sie mit der Zeit nur noch wenig vorwärtsbringen, aber sie bringen eben auch Erfahrung in die Regierungsarbeit ein und sichern die Kontinuität. Alles zusammen bringt jene Stabilität, die der Zürcher Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler mit Recht als wesentliche Voraussetzung für Unternehmertum und als eine der Grundlagen schweizerischen Wohlstands ansieht.

Interessant ist, ob die sukzessive Einbindung neuer oder an Bedeutung gewinnender Kräfte sich positiv auf die Wirtschaftsentwicklung ausgewirkt hat. Man kann diese Frage zwar nicht hieb- und stichfest beantworten. Immerhin ist jedoch eine gewisse Korrelation festzustellen. Am ausgeprägtesten gilt dies für die Zeit nach 1891, als die Regierung mit dem Eintritt von Joseph Zemp für die Katholisch-Konservativen (KK) geöffnet wurde und die Schweiz einen veritablen Aufschwung erlebte.

Auch nach der Aufstockung der KK-Vertretung auf zwei (1919), weiter nach dem Zweiten Weltkrieg, also relativ bald nach der erstmaligen Einbindung der Sozialisten (1943, Ernst Nobs), ferner nach der Installierung der Zauberformel ab 1959 und schliesslich 2003 bis 2007 (mit einem zweiten SVP-Vertreter im Bundesrat) florierte die Schweizer Wirtschaft überdurchschnittlich stark. Einzig auf die erstmalige Vertretung der damaligen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei im Bundesrat (1929, Rudolf Minger) folgte keine wirtschaftliche Blüte. Es war dies die Zeit der Grossen Depression, die die ganze westliche Welt erfasste und der sich die Schweiz nicht entziehen konnte.

Vom Kurs abgekommen

Wenn man die politische Stabilität für einen zentralen Wachstumsfaktor hält, könnte dieses Zusammentreffen von parteipolitischer Neuformierung und wirtschaftlichem Aufschwung dahingehend interpretiert werden, dass die Einbindung tatsächlich oder potenziell oppositioneller Kräfte jeweils eine Zeit des Ringens um Partizipation und damit auch der Unsicherheit beendete. Die Anpassung der Zusammensetzung des Bundesrates an neue politische Realitäten schaffte Klarheit und brachte Stabilität. Unternehmer konnten und wollten wieder investieren, auch auf längere Zeit hinaus, denn Wechsel im Bundesrat waren nie auf kurze Frist angelegt.

Seit 2007 ist die Schweiz etwas von diesem Kurs abgekommen. Neu sind fünf Parteien im Bundesrat vertreten, darunter eine sehr junge Kleinstpartei, es gab eine gewisse Häufung von personellen Wechseln, und die jetzige Zusammensetzung scheint kaum auf Dauer angelegt. Welche Strategie auch immer die Parteien bei der Bundesratswahl 2011 einschlagen werden, ob sie die derzeit stärkste Partei in die Opposition drängen wollen oder ob sie zur leicht modifizierten Zauberformel von 2003 zurück-kehren wollen, sollten sie jedenfalls bedenken, ob sich die gewählte Strategie auch nachhaltig durchziehen lässt.

Die Lehre der Geschichte scheint zu sein, dass der Zauber der Zauberformel (sowie ihrer Vorgänger und Nachläufer) nicht so sehr in ihrer Gerechtigkeit, also in der fairen Verteilung der Macht liegt, sondern vielmehr in der Stabilität, die sie zu schaffen vermochte – durch das Einbinden aller wichtigen Kräfte in die Regierung und durch grosse Langfristigkeit von parteipolitischer Zusammensetzung und personeller Besetzung des Bundesrates. Diese Stabilität war und ist eine wichtige Quelle des Wohlstands.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. September 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.