Vor 100 Jahren war die Welt noch «in Ordnung». Die Grenzen der europäischen Staaten waren nahezu gleichbedeutend mit Sprach- und Kulturgrenzen, und vom Atlantik bis zum Ural bekannte sich die Mehrheit der Bevölkerung zum Christentum. Landauf landab wurden jeden Sonntag die Inhalte des Alten und Neuen Testaments in meist vollen Kirchen repetiert. Die Gesellschaften verfügten über einen klar definierten «moralischen Raum». Der einzelne Mensch hatte in dieser Welt über seinen eigenen Lebensentwurf wenig nachzudenken: Die Erwartungen der Allgemeinheit an das Individuum waren festgezurrt, ebenso die soziale Rangordnung. Widerstand war zwecklos – und weitgehend unerwünscht. Das Leben der Menschen ging seinen Lauf, solange es nicht durch Kriege, Katastrophen oder Seuchen ein jähes Ende fand.
Explosion der Werte
In der modernen, globalisierten Gesellschaft ist alles anders. Die Menschen sind sozial und lokal mobil geworden. In der Schule und am Arbeitsplatz stehen sich in der Regel Menschen unterschiedlicher Sprachen und Religionen gegenüber. Ausserdem haben die Kirchen über weite Strecken ihre Autorität eingebüsst. Die Zugehörigkeit zu einem Sportclub kann für den Einzelnen heute identitätsstiftender sein als seine religiöse Orientierung. Die eine durch einen Wertekanon geregelte Gesellschaft gibt es nicht mehr.
An die Stelle des einst klar definierten moralischen Rahmens sind heute viele unterschiedliche «Szenen» mit ihren jeweils eigenen Werten getreten. Es gibt die «Szenen» der Kirchgänger, der Hells Angels, der Fussballfans, der Rotarier und der Facebook-Freunde. Die Liste ist beliebig verlängerbar, und natürlich stehen auch ihre Werte zum Teil im Konflikt miteinander. Unsere Werte sind nicht weniger geworden, sondern mehr – und weniger allgemeingültig. Abhängig davon, in welcher Szene sich die Menschen gerade bewegen, passen sie ihr Verhalten entsprechend an.
Innere Unruhe vorprogrammiert
Der Zerfall der Gesellschaft in verschiedene Untergruppen ist evident und der «guten alten» Vergangenheit kann man nachtrauern. Nicht alle Menschen kommen mit der Verantwortung, ihren eigenen Lebensentwurf zu schneidern, klar. Und auch nicht allen stehen die gleichen Möglichkeiten offen. Die innere Unruhe, die durch die grosse Auswahl an Möglichkeiten quasi vorprogrammiert ist, ist aber auch eine grosse Chance: Nämlich die Chance auf ein reicheres, weil selbst gewähltes und nicht vordefiniertes Leben.
Dies ist eine Zusammenfassung des Beitrags von Guy Kirsch, Prof. em. der Universität Fribourg, zum kürzlich bei Avenir Suisse erschienenen Buch «Der Wert der Werte».