«Krisen, insbesondere sehr schwere Krisen, sind oft Lernchancen», stellt der renommierte britische Wirtschaftshistoriker Harold James fest, der an der Princeton University lehrt und in der Programmkommission von Avenir Suisse mitarbeitet. «Leider scheint die Welt bisher sehr wenig aus der jüngsten Finanzkrise gelernt zu haben.» Um aus einer Krise zu lernen, müsse man die Gründe für die Probleme analysieren, aber auch Lösungen finden: «Als Gemeinschaft haben wir den ersten Teil sehr gut gemacht, den zweiten sehr schlecht.» Die Gedanken von Harold James, was wir aus der Krise lernen sollten, sind jetzt im Buch «Der Wert der Werte» nachzulesen, in dem Karen Horn und Gerhard Schwarz die Referate von Tagungen herausgeben, die Avenir Suisse und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln gemeinsam im Juni 2011 in Berlin und Zürich veranstalteten.

Hat die Ökonomie versagt? Ist das Menschenbild der Ökonomen gescheitert? Und lässt sich die Krise gerade darauf zurückführen, dass sich die Wirtschaftswissenschafter bisher weigerten, sich auf eine Grundsatzdiskussion über Werte einzulassen? Der Historiker meint: «Man kann mit einiger Sicherheit behaupten, dass die Krise der empirischen Wirtschaftslehre und die grundsätzlichere Krise des Wertesystems miteinander verbunden sind.» So zeigten sich Verhaltensmuster und Sprachgebrauch der Finanzmärkte schon im Liebesleben, wenn etwa in einer Studie die Nutzer von Online-Dating angaben, sie scheuten feste Beziehungen und experimentierten mit Put- und Call-Optionen für ihr Privatleben.

Unmögliche intellektuelle Turnübungen

Als wirksames Korrektiv gegen die Erosion oder Deformation von Werten sieht Harold James das Naturrecht: «In dieser Tradition wird durch vernünftiges Nachdenken ein Normensatz, ein Gerüst leitender Prinzipien ermittelt.» Allerdings könnten die beiden Diskurstraditionen von Moralphilosophie und Ökonomie nicht direkt miteinander kommunizieren: «Moralphilosophie ist normativ, während es die Vertreter der Wirtschaftswissenschaften ganz bewusst vermeiden, Normen zu setzen.» Die verschiedenen Ansätze wirkten darum «wie zwei endlos parallele Barrenholmen, die unmögliche intellektuelle Turnübungen verlangen – einen immerwährenden Spagat zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte». Deshalb erklärten die beiden Disziplinen die Krise auch unterschiedlich: Für die Moralphilosophen verhält sich der Markt nicht so, wie er sollte – für die Ökonomen nicht so, wie sie es berechneten.

Regelmässig die Schulden streichen?

Wie lässt sich das naturrechtliche Denken auf die aktuelle Verschuldungsproblematik anwenden? «Eine Aufblähung der Schulden – wie sie vor allem in einer Deflation vorkommt – ruft stets radikale Kapitalismuskritik hervor», weiss der Historiker. «Die Forderung, alle Schulden zu streichen, ist eine gängige Form davon. Eine Auflehnung gegen die Marktwirtschaft artikuliert sich häufig zu allererst als Verteufelung von Schulden und Verschuldungspraktiken.» Mögliche Wege aus der Krise sind aus Sicht des Naturrechts denn auch die Vereinfachung der Finanzwirtschaft, die Rückkehr zu einem niedrigeren Schuldenstand und die Einschränkung des Geldflusses über weite Entfernungen. «Einige Traditionen des Naturrechts stellen allerdings radikalere Forderungen und verlangen, dass die Schulden tatsächlich regelmässig gestrichen werden – ganz so wie beim alttestamentarischen Ablass.» Harold James sieht selber verschiedene Möglichkeiten, vom «Irrweg» der übermässigen Verschuldung abzurücken, von höheren Eigenkapitalquoten für die Banken bis hin zur «Radikalkur» einer Abschaffung des Prinzips der beschränkten Haftung.

Der Markt erzeugt seine Werte nicht selbst

Allerdings weiss der Autor: «Die Übertragung moralischer Begriffe auf die Wirtschaftsbeziehungen tritt gegen eine einflussreiche Strömung an, in der sich das Denken der Finanzwirtschaft vom Rest der Welt abgekoppelt und zu einer Art mathematischer Abstraktion entwickelt hat.» Er fragt deshalb – wie andere Beiträge im Band «Vom Wert der Werte» – nach den Werten in der Ökonomie. Und er mahnt: «Eine Marktgesellschaft kann nicht einfach auf der Basis jener Werte existieren, die sie als Resultat ihrer kommerziellen Aktivitäten und ihres Warentauschs selber erzeugt.»