Beim Versuch, die aktuelle Zuwanderungsdebatte zu verstehen und zu analysieren, drängt sich unweigerlich der Begriff der «Wohlstandsverwöhnung» auf. Was genau soll dieser Begriff zum Ausdruck bringen? In erster Linie, dass man Wohlstand heute gering schätzt oder zumindest als selbstverständlich betrachtet und sich nicht bewusst ist, wie sehr er auf unserer offenen Wirtschaftsordnung beruht. Wohlstandsverwöhnung bedeutet aber auch, zu glauben, man könne in die Wirtschaft eingreifen, ohne den Wohlstand zu gefährden. Besonders explosiv wird das Gemisch, wenn sich Wohlstandsverwöhnung in ausgeprägter Wachstumsmüdigkeit, ja Wachstumskritik äussert – das könnte das Erfolgsmodell Schweiz in seinen Grundfesten erschüttern.

Wachstum ist eng mit Wohlstandssicherung verknüpft, denn in einer wirtschaftlich stagnierenden Gesellschaft ist es schwer, die langfristigen Versprechungen und Verpflichtungen zu erfüllen. Ohne Wachstum ist es etwa kaum möglich, zukünftige Renten zu sichern, da dann jeder wirtschaftliche Rückschlag, komme er von den Märkten oder der Demografie, unmittelbar auf jene durchschlägt, die nicht mehr produktiv am wirtschaftlichen Prozess teilhaben. Da alle westlichen Gesellschaften ihren Sozialstaat zum Teil auf Kosten der künftigen Generationen auf- und ausgebaut haben, ist Wirtschaftswachstum eine elegante Möglichkeit, sich aus dieser Schuld gegenüber den künftigen Generationen zu befreien. Wachstum ist aber auch gesellschaftspolitisch von grosser Bedeutung, da es Verschiebungen in der Verteilung erlaubt, die praktisch unbemerkt vor sich gehen. Umverteilung unter Wachstumsbedingungen bedeutet, dass es allen besser geht, wenn auch manchmal den einen etwas besser als den anderen.

Dass Wachstum und Wohlstand auch unerwünschte Begleiterscheinungen haben können, ist unbestritten. Forderungen, deshalb möglichst auf Wachstum zu verzichten, schütten jedoch das Kind mit dem Bad aus, denn dadurch würden auch jene Fortschritte verhindert, die zu einem besseren Wohlergehen der Menschheit beitragen: Hand aufs Herz – wer würde sich schon ernsthaft Zeiten ohne Farbfernsehen, Computer, Handy und Waschmaschine, Zeiten, in denen es für viele Krankheiten noch keine Behandlungen gab und die Kinder- sowie die Müttersterblichkeit hoch waren, zurückwünschen? Und wer könnte es moralisch vertreten, solche Vorteile des technischen Fortschritts für sich zu beanspruchen, sie jedoch Menschen in weniger entwickelten Regionen zu verweigern? Es gibt also mehr als genügend Gründe, weshalb sich die Schweiz nicht der Wachstumsmüdigkeit hingeben oder sich sogar bewusst wirtschaftlichem Wachstum verschliessen sollte.

Nachvollziehbar sind hingegen Bedenken gegenüber einem eigentlichen «Wachstumszwang». Es ist in der Tat eine riskante Wette, zentrale gesellschafts- und wirtschaftspolitische Bereiche und Institutionen auf der Annahme eines stetigen Wachstums aufzubauen. Genau das haben fast alle Industriestaaten, zumal in Europa, getan. Fällt dann das Wachstum geringer als geplant aus, besteht die Gefahr, dass einzelne Länder ihre Staatsverschuldung endgültig nicht mehr tragen können, dass sich die Finanzierungslücken in der Altersvorsorge, im Gesundheits- und im Bildungswesen verschlimmern und der soziale Ausgleich gefährdet wird. Das Anheizen des Wachstums über eine expansive Geldpolitik oder eine konjunkturstimulierende Fiskalpolitik ist aber keine Antwort auf diese Herausforderungen, denn solch künstliches Wachstum kann niemals nachhaltig sein. Stattdessen wären konkrete Massnahmen gefragt, etwa die Beseitigung aller wachstumsfeindlichen Regulierungen, die Einführung einer wirksamen Schuldenbremse für die Sozialwerke, die Schaffung von Kostenwahrheit im (öffentlichen und privaten) Verkehr, eine liberalere Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und eine konsistente Raumplanungspolitik. Doch fragt sich, ob die Wachstumsmüden und Wohlstandsverwöhnten bereit sind, solche Schritte mitzutragen, wo es doch so viel angenehmer ist, auf Kosten anderer und auf Kosten kommender Generationen zu leben – und dabei ein Gefühl moralischer Überlegenheit zu entwickeln, weil man ja die Umwelt schone.

Dieser Artikel erschien in der «Schweiz am Sonntag» vom 28.12.2014.