Direkte Demokratie ist super. Die direkte Demokratie gibt den Stimmberechtigten – in einigen Kantonen schliesst dies gar Ausländer mit ein – die Freiheit, die Intensität ihres Mitwirkens selbst zu bestimmen. Stimmbürgerinnen und Stimmbürger können, müssen aber nicht an der direkten Demokratie teilnehmen. Es handelt sich um ein Mitspracherecht, und, mit Ausnahme des Kantons Schaffhausen, um keine Verpflichtung. Sie können wählen gehen, sich für die Schulpflege aufstellen lassen, oder für eine Initiative Unterschriften sammeln; oder das Stimmcouvert direkt auf den Altpapierstapel werfen. Aktuelles Beispiel: die Trinkwasser-Initiative, die von einer Fitnesstrainerin aus Solothurn lanciert wurde.
Die Minderheit entscheidet
Die Mehrheit will jedoch nicht. Die Beteiligung bei den letzten nationalen Wahlen 2015 lag bei 48,5 Prozent. Gemeinden mangelt es an Kandidaten für Exekutivämter. Seit Jahren geht nur etwa ein Drittel der 18 – 25 Jährigen wählen, während die höchste Beteiligung bei den 70-Jährigen liegt.
Bei den Wahlen wird das Parlament von weniger als der Hälfte der Wahlberechtigten gewählt. Bei Abstimmungen gewinnen Initiativen teils dank einem Zuspruch von 51 Prozent bei einer Stimmbeteiligung von durchschnittlichen 49 Prozent. Demnach spricht sich theoretisch nur ein Viertel der Stimmbevölkerung für einen Entscheid aus, der die Verfassung ändert.
Man könnte es dabei belassen und sagen: Der wahre Wert der direkten Demokratie ist das Gefühl der Freiheit, die freie Wahl an Mitsprache, die sie der Bevölkerung ermöglicht. Klar gibt es auch noch die Gelegenheitswähler, die selektiv abstimmen. Betrachten wir nicht die durchschnittliche Beteiligung pro Abstimmung, sondern kumulieren die Teilnahmen einzelner Bürgerinnen und Bürger (kumulative Stimmbeteiligung), liegt die Stimmbeteiligung bei 90 Prozent. Fast jeder Stimmberechtigte halt also mindestens einmal an einer Abstimmung teilgenommen. Uns damit zu begnügen, greift jedoch zu kurz.
Wenn bei den meisten Abstimmungen und Wahlen die Hälfte der Bevölkerung der Demokratie fernbleibt, droht das System an Legitimität zu verlieren. Eine direkte Demokratie wird nur dann ihrem Namen gerecht, wenn sich auch alle ihre Mitglieder daran beteiligen.
Wegweisend für die Jungen
Die Reform der AHV zeigt das Problem der tiefen Beteiligung bestens auf: Nur etwa 26 Prozent der 18 – 20 Jährigen gingen an die Urne. Wie viel Geld für zukünftige Generationen zur Verfügung steht, betrifft vor allem die Jungen. Nicht nur im Parlament – das Durchschnittsalter im Nationalrat liegt bei 51 Jahren – sondern auch bei Abstimmungen entscheiden jedoch mehrheitlich ältere Generationen über die Zukunft der AHV. Oder über die Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit – alles politische Entscheide, welche vor allem zukünftige Generationen prägen werden. Junge kandidieren zahlreich für politische Ämter und dürfen ab 18 Jahren wählen. An rechtlichen Hürden liegt die tiefe Repräsentation und Teilnahme also nicht.
Entscheidend ist, weshalb fast die Hälfte der Stimm- und Wahlberechtigten nicht teilnimmt, oder immer weniger als Gemeinderäte kandidieren. Insbesondere vor den Wahlen versuchen die Medien jeweils die «Nichtwähler» kennenzulernen. Meistens haben sie mindestens eine der folgenden Charakteristiken: Frau, jung, wenig gebildet und geringverdienend. Sie sagen Dinge wie «ich gehe nicht wählen, weil ich mich von den Politikerinnen in Bern eh nicht repräsentiert fühle». Doch wenn man nie wählen geht, wird sich daran definitiv nichts ändern.
Für die Wahlen 2019 stehen über 4000 Kandidierende zur Wahl, teilweise mehrere Hunderte pro Kanton. Da wird wohl jeder jemanden finden, der ihn oder sie repräsentieren kann. Ebenfalls ein oft gehörtes Argument: »Die in Bern machen sowieso, was sie wollen.» Dabei haben wir dank der direkten Demokratie die Möglichkeit, die Abstimmungen entgegen der Haltung des Parlaments zu entscheiden.
Gemäss einer Nachbefragung (Voto-Studie) nach den Abstimmungen im Mai 2019 gaben 42 Prozent der Nichtstimmer an, aufgrund von Ferien oder Krankheit verhindert gewesen zu sein. Weitere 38 Prozent gaben an, sie hätten schlicht vergessen, abzustimmen. Diese Antworten deuten darauf hin, dass sie eher Ausreden für Faulheit und Desinteresse sind. Doch deuten sie auch darauf hin, dass die Befragten wissen, dass ihr Fernbleiben nicht egal ist.
Chance des Föderalismus
Wir sollten als Gesellschaft ein Interesse daran haben, dass ein möglichst grosser Teil unserer Bevölkerung an der direkten Demokratie teilnimmt. Dazu gehören alle gleichermassen: Frauen, Männer, VertreterInnen verschiedener Communities wie die LGBTI-Community, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung und Menschen aller Altersklassen. Die Schweiz ist vielfältig, das derzeitige Parlament ist es nicht.
Viele Junge entwickeln ihr Interesse an politischen Debatten zu Hause am Esstisch. Nicht alle wachsen jedoch in einem Umfeld auf, in welchem Themen wie eine Reform der AHV oder die Bedeutung der Einwanderung debattiert werden. Eine wichtige Rolle fällt dabei der Schule zu. Auch wenn einige Politiker dagegen argumentieren, die Schule sei politisch zu wenig neutral, ist das Klassenzimmer der Ort, wo politische Bildung stattfinden sollte. Lehrern kommt dabei die wichtige Rolle zuteil, Themen in einen neutralen historischen und aktuellen Kontext einzubetten. Sie sollen ein Bewusstsein vermitteln, das uns diese Dinge alle etwas angehen.
Eine grosse Chance bietet zusätzlich das föderalistische System der Schweiz: Kantone und Gemeinden sollten kreativer werden und mit Hilfe von technologischen als auch analogen Mitteln neue Methoden der partizipativen Demokratie erproben. Sie böten eine Chance, den Graben zwischen Politik und Bevölkerung aufzuschütten. Denn Politik betrifft uns alle, auch wenn du nicht wählen gehst oder nicht abstimmst.
Politik ist, wie viel AHV du einmal erhalten wirst, was mit deinen Steuern geschieht und ob dein Lieblingsclub auch im kommenden Jahr noch in Betrieb ist. Die Politik bestimmt nicht über uns, sondern wir bestimmen sie.