Die Preise im Stromgrosshandel bilden sich – wie in anderen Märkten auch – durch Angebot und Nachfrage. Zahlreiche Studien illustrieren jedoch, dass in der Praxis die Preisbildung an den Strommärkten oft verzerrt ist und von den theoretisch ermittelten Marktgleichgewichten abweicht. So zeigen Untersuchungen für Deutschland, dass vor allem bei hoher Nachfrage die Preise an den Strombörsen über eine simulierte Angebotskurve hinausschiessen. Diese Beobachtung kann – mindestens teilweise – auf die Kombination einer kurzfristig besonders unelastischen Nachfrage einerseits und den Einfluss von Marktmacht und strategischem Bieterverhalten anderseits zurückgeführt werden. Denn auch nach der Liberalisierung blieben viele europäische Märkte beschränkt wettbewerblich. Viele Länder haben es verpasst, neben der Marktöffnung auch einen konsequenten Privatisierungsprozess einzuleiten – etwa indem die staatlichen Monopolisten Kraftwerkskapazitäten an neue private Akteure übertragen müssen.
Es überrascht daher nicht, dass Gesetzgeber und Regulatoren im Nachhinein versuchen, mit Interventionen die Marktresultate zu «korrigieren». Eine vermeintlich einfache, aber besonders einschneidende Variante ist die Regulierung der Grosshandelspreise. An europäischen Strombörsen wie der EEX bestehen heute zwar obere Preislimiten, doch handelt es sich dabei – jedenfalls bisher – nur um technische und nicht um formell-regulatorische Preisobergrenzen. Eine alternative, vermeintlich weniger einschneidende aber aufwändige Massnahme stellen Marktüberwachung und Sanktionierung durch eine zentrale Behörde dar. Mit der neuen Verordnung REMIT (Regulation on Wholesale Energy Market Integrity and Transparency) vom 25. Oktober 2011 hat die EU-Kommission die Grundlagen für eine derartige europaweite Marktüberwachung gelegt. Ziele sind die Schaffung einheitlicher Rahmenbedingungen im Energiegrosshandel, die Erhöhung der Transparenz im Stromhandel, die Bekämpfung von Marktmissbrauch und Insiderhandel und damit die Stärkung des Wettbewerbs. REMIT verbietet nicht nur Insider-Handel, sondern verpflichtet auch zur Veröffentlichung von Insider-Informationen. Die Verordnung verbietet ausserdem Marktmanipulationen und überträgt einer zentralen Agentur die Marktüberwachung. Stromproduzenten bzw. -händler müssen den nationalen Regulatoren und der EU-Behörde ACER detaillierte Angaben über Kraftwerkskapazitäten, Speicher und deren Nutzung sowie ungeplante Nichtverfügbarkeit machen. Zu melden sind ausserdem Angaben zu den Transaktionen im Börsen- und ausserbörslichen Handel (Produkte, Preise, Mengen, Parteien etc.).
Konsequenzen für den Schweizer Strommarkt
Von REMIT betroffen sind jegliche Grosshandelsprodukte (Verträge und Derivate) im Zusammenhang mit der Erzeugung, Handel, Lieferung, Transport oder Versorgung von Strom und Gas in der EU. Aufgrund dieser umfassenden Definition dürfte es für die Schweizer Stromwirtschaft unmöglich sein, sich den Regulierungen aus Brüssel zu entziehen. Denn die inländischen Stromproduzenten und -händler sind aus technischen und wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen, Handel mit dem benachbarten Ausland zu betreiben. Das illustrieren auch die Zahlen zum Stromaussenhandel: 2011 importierte die Schweiz 83 TWh und exportierte 81 TWh Strom, während der Verbrauch im Inland lediglich 59 TWh betrug (vgl. Abbildung). Es ist absehbar, dass die Schweiz die Regulierungen aus der EU in irgendeiner Form übernehmen wird. Sieht man vom administrativen Aufwand ab, ist das auf den ersten Blick wenig einschneidend. Faktisch nämlich ist der kleine Schweizer Strommarkt bei der Preisbildung im Grosshandel nicht bedeutend. Vielmehr übernimmt das Land aufgrund der hohen Relevanz des Handels das Preisniveau der Nachbarn, wo fossile Kraftwerke die Preise bestimmen. Auch für Schweizer Verbraucher – von denen viele gar nicht am Markt partizipieren können – ist REMIT vermeintlich nicht besonders interessant. Schliesslich betrifft die Verordnung keine Endkundenverträge.
Informationen für die regulierten Tarife in der Grundversorgung
Doch gerade weil der schweizerische Strommarkt nur teilweise geöffnet ist, könnten die im Rahmen von REMIT erhobenen Daten im Inland besonders relevant werden. Denn heute gilt in der sogenannten Grundversorgung eine Tarifregulierung auf Basis der Gestehungskosten. Bisher war diese Regulierung einseitig verbraucherfreundlich. So setzte Artikel 4 der Stromversorgungsverordnung (StromVV) den Marktpreis als allfällige Preisobergrenze ein: «Überschreiten die Gestehungskosten die Marktpreise, orientiert sich der Tarifanteil an den Marktpreisen.» Nachdem im Frühjahr 2012 die Regulierungsbehörde ElCom angekündigt hatte, dass sie diesen Satz nicht mehr anwenden würde, kündigte im Januar 2013 der Bundesrat eine Änderung der StromVV an, bei der der Satz gestrichen wird. Vor dem Hintergrund der ausserordentlich tiefen Grosshandelspreise in Europa ist dies besonders relevant, denn nun entsteht in der Grundversorgung eine Art Preisuntergrenze – Produzenten werden gegen die tiefen Marktpreise abgesichert. Kein Wunder, dass ihr Interesse an einer vollständigen Marktliberalisierung erlahmt.
Nachdem der Marktpreis als disziplinierendes Element bei den Strompreisen in der Grundversorgung entfällt, werden sich Verbraucher und Regulierungsbehörden vermehrt für aussagekräftige Produktions- und Kostendaten interessieren. Aufgrund von asymmetrischen Informationen über den Einsatz von Kraftwerken sowie der Relevanz und Struktur des Handels waren die Interventionsmöglichkeiten der ElCom bei der Prüfung von Tarifen bisher eher beschränkt. Die im Rahmen von REMIT erfassten Daten über den Kraftwerkspark und den Grosshandel würden dies verändern. So liesse sich beispielsweise ermitteln, welche Kraftwerke tatsächlich bei der inländischen Versorgung oder im Handel mit dem Ausland eingesetzt werden. Im Fokus stünde etwa die Frage, ob inländische Verbraucher in irgendeiner Form das internationale Geschäft subventionieren – etwa indem die Erzeugung besonders kostspieliger Kraftwerke in erster Linie dem Inlandverbrauch zugerechnet würde. Es ist daher absehbar, dass die gesammelten Daten bei Verbrauchern und Regulatoren Interesse wecken und über kurz oder lang Diskussionen über die «richtigen» Stromtarife in der Grundversorgung auslösen. Würde man endlich den gesamten Markt liberalisieren, könnte man sich diesen langwierigen Prozess ersparen.