In den letzten Jahrzehnten haben die rapiden Veränderungen in den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie dazu geführt, dass viele öffentliche Leistungen, die früher lokal erbracht wurden oder für die noch gar kein Bedarf bestand, heute aus Sicht der produktiven Effizienz und der fiskalischen Äquivalenz am sinnvollsten auf regionaler Stufe geregelt und erbracht werden. Die Gemeindestrukturen hingegen blieben lange Zeit praktisch unangetastet. Das führte vielerorts dazu, dass von der vielzitierten Gemeindeautonomie schon heute faktisch nicht mehr viel übrig geblieben ist. Denn der Handlungsspielraum der Gemeinden wurde in den meisten Bereichen durch übergeordnetes Recht, durch freiwillige interkommunale Zusammenarbeit oder durch Sachzwänge erheblich eingeschränkt, oder Aufgaben wurden gänzlich vom Kanton übernommen.
Unterdessen ist die Schweizer Gemeindelandschaft aus ihrem 150 jährigen Dornröschenschlaf erwacht. In der Hälfte aller Kantone fand seit dem Jahr 2000 eine nennenswerte Anzahl an Gemeindezusammenschlüssen statt, in einigen Kantonen blieb gar kaum ein Stein auf dem anderen. Für die Zukunft sind zwei (Extrem-)szenarien vorstellbar:
- Die derzeitige Fusionsdynamik kommt rasch zum Erliegen: Die faktische Autonomie der Gemeinden wird dadurch weiter oder sogar beschleunigt abnehmen, da immer weitere Kompetenzen an die Kantone übertragen werden und der den Gemeinden verbleibende Aufgabenanteil meist nur durch Formen der Interkommunalen Zusammenarbeit (IKZ) erfüllt werden kann. Die meisten wichtigen Entscheidungen zur staatlichen Leistungserbringung werden nicht mehr autonom von einzelnen Gemeinden gefällt, sondern fallen in Gemeindeverbänden oder werden durch die Kantone vorgegeben.
- Die Fusionsdynamik hält an bzw. beschleunigt sich sogar: Verschiedene (kleinere) Kantone folgen dem Beispiel des Kantons Glarus und setzen eine flächendeckende, koordinierte Gemeindestrukturreform um. Der Trend zur Zentralisierung von Aufgaben und Entscheidkompetenzen kann dadurch gebremst oder sogar umgekehrt werden. Die Gemeinden nehmen die ihnen übertragenen Aufgaben wieder vermehrt autonom wahr.
Urteil zu Szenario 1:
Es wäre vermessen zu behaupten, die kommunale Aufgabenerfüllung durch die flexible Zusammenarbeit rechtlich autonomer Kleingemeinden sei grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Da viele Schweizer Kantone im internationalen Vergleich immer noch relativ kleine institutionelle Einheiten darstellen, würde eine Zentralisierung ehemals kommunaler Aufgaben die Bedarfsgerechtigkeit dieser Leistungen eventuell gar nicht allzu stark schmälern. Ganz sicher falsch ist jedoch das Argument der Fusionsgegner, durch ein Festhalten an historischen Gemeindestrukturen werde die Bürgernähe der staatlichen Leistungserbringung am besten gewahrt: In der Tat begünstigen kleine politische Einheiten die Kontrolle der Staatstätigkeit durch die Bürger, erhöhen den Willen zur politischen Partizipation und garantieren dadurch den sparsamen Umgang mit Steuergeldern und eine bedarfsgerechte Leistungserbringung. All das bringt aber nichts, wenn solche Gemeinden aufgrund ihrer Kleinheit gar keine relevanten Leistungen mehr wirklich autonom erfüllen können. Viele Gemeinden verkommen so – überspitzt formuliert – zu leeren Gefässen, deren letzte Mission es ist, Heimatgefühl zu vermitteln, indem der Schein der Pseudoautonomie aufrecht erhalten wird.
Urteil zu Szenario 2: Die oben stehenden Überlegungen bedeuten im Umkehrschluss: Je grösser die Gemeinden eines Kantons sind, desto grösser ist der Anteil der potenziellen kantonalen und kommunalen Leistungen, die sie autonom (also auch ohne IKZ) erbringen können. Allerdings existiert ein Trade-Off zwischen dem Anteil der autonomen Aufgabenerfüllung (steigend mit der Gemeindegrösse) und der Bürgernähe der kommunalen Leistungserbringung (sinkend mit der Gemeindegrösse). Fusionen werden immer dazu führen, dass mehr Aufgaben selbständig von den fusionierten Gemeinden bewältigt werden können. Fortwährende Gemeindefusionen führen aber letztlich (zumindest theoretisch) in einen Zustand, in dem sich alle Gemeinden des Kantons zu einer einzigen zusammengeschlossen haben, die dann die gesamten kommunalen und kantonalen Leistungen erbringen könnte. Dieses Resultat wäre äquivalent mit der anderen Extremvariante, in der alle Leistungen bei einem Kanton zentralisiert sind, dessen unzählige Kleinstgemeinden nicht mehr fähig sind, auch nur eine Aufgabe sinnvoll selbst zu erfüllen. Keine dieser Optionen ist wünschenswert.
Die «optimale Gemeindegrösse», von der sich auch der Umfang des Strukturreformbedarfs ableitet, liegt demnach – heureka! – irgendwo zwischen den beiden Extremvarianten.
Bei all diesen eher theoretischen Überlegungen bleibt klar: Damit die Gemeindeautonomie der Schweiz nicht zum Mythos verkommt, sind (weitere) Gemeindereformen in vielen Kantonen unumgänglich.