Liberale Positionen haben es derzeit schwer: Tausende werden in Quarantäne geschickt, Politiker fordern eine Renationalisierung. Peter Grünenfelder prangert solche Entwicklungen im Gespräch mit David Vonplon und Christoph Eisenring an.
NZZ: Herr Grünenfelder, zum 20-Jahre-Jubiläum von Avenir Suisse hätten wir ein kämpferisches Plädoyer erwartet. Stattdessen schreiben Sie ein Loblied auf die grossen Unternehmen.
Peter Grünenfelder: Wir könnten nicht kämpferischer unterwegs sein! Das Unternehmertum ist unter Druck. Was eine «gute» Unternehmensführung ist, entscheidet heute zunehmend die Politik regulatorisch – und nicht mehr das Unternehmen selbst. Wir müssen deshalb auf die negativen Folgen hinweisen, welche die gegenwärtige Vergesellschaftung der Schweizer Unternehmen hat. Unsere Publikation ist also ein Weckruf – und nicht eine verstaubte Festschrift.
Ist Avenir Suisse brav geworden?
Wir sprechen Tabus und das Unbequeme an – und lösen damit links wie rechts viele Reaktionen aus. Was bei mir alles an anonymen und gezeichneten Reaktionen reinkommt, zeigt, dass wir nach wie vor der liberale Aufreger des Landes sind.
Sie sind angetreten mit dem Anspruch, die Frage eines EU-Beitritts zu enttabuisieren.
Wir wollen unser Verhältnis zu Europa versachlichen. Während die Bevölkerung in der Europa-Frage pragmatisch abstimmt, ist es politisch ein toxisches Thema. Mit unserem Weissbuch haben wir den ökonomischen Wert der verschiedenen Integrationsszenarien aufgezeigt. Wenn die Schweiz in den letzten Jahren liberale Reformen angepackt hat, dann wurde das nicht zuletzt durch die Teilnahme am EU-Binnenmarkt angestossen.
Aber viel weiter sind wir in der Diskussion heute nicht.
Wir können Entscheidungsgrundlagen liefern, aber wir können nichts daran ändern, dass es in diesem Dossier einen eklatanten Entscheidungsstau im Bundesrat gibt. Der Konflikt zwischen den USA und China wird sich akzentuieren. Er wird nicht nur das Wirtschaftliche betreffen, sondern auch die Sicherheitspolitik. Der dritte Pol ist Europa. Die europäische Zusammenarbeit und die Einbindung in den EU-Binnenmarkt wirken für uns wie eine Art Schutzschirm. Eine Abkehr vom bilateralen Weg wäre nicht nur wirtschaftlich ein enormes Risiko.
Wenn man auf die Industriepolitik der EU und deren «Wiederaufbaufonds» blickt, kann man doch nicht von einem liberalen Projekt sprechen.
Die Schuldenwirtschaft innerhalb der EU macht mir grosse Sorgen. Und der Euro ist ein politisches Konstrukt mit gravierenden ökonomischen Konstruktionsfehlern. Der europäische Binnenmarkt dagegen ist ein liberales Projekt, das weiter vertieft wird. Ich spreche von einzelnen Politikfeldern, von der Strommarktliberalisierung oder vom Markt mit digitalen Dienstleistungen. Schauen Sie sich die Beihilfen und die Anzahl Staatsunternehmen hierzulande an. Da ist man im Binnenmarkt marktkonformer unterwegs als die Schweiz.
Muss man nicht manchmal etwas Prosperität aufgeben, um Souveränität behalten zu können?
Die Nationalstaatlichkeit hat angesichts von Herausforderungen wie der Migration, dem Klimawandel oder auch der Pandemie ihre Grenzen. Souveränität kann immer nur relativ und nicht absolut sein. Wir haben mit der Teilhabe am Binnenmarkt einem gewissen Souveränitätstransfer zugestimmt, denken Sie nur an die kreative Wortschöpfung des «autonomen Nachvollzugs». Das Schöne an der direkten Demokratie ist auch, dass wir einen Entscheid rückgängig machen können, wenn er sich als unvorteilhaft erweist.
Die Renationalisierung wird nicht nur von der Linken, sondern auch von Bürgerlichen gefordert.
Eine Renationalisierung ist unbezahlbar. Versorgungssicherheit haben wir am ehesten, wenn wir in internationale Wertschöpfungsketten eingegliedert sind. Haben wir während der Pandemie irgendeinen Versorgungsengpass mit Lebensmitteln gehabt? Es gab vorübergehend ein paar leere Regale. Da hätte man das Arbeitsrecht liberalisieren sollen, damit man 24 Stunden hätte einkaufen und durch das Personal wieder hätte aufstocken können.
Der Angelpunkt von Avenir Suisse ist die Prosperität der Schweiz. Sollte er für einen liberalen Think-Tank nicht die Freiheit sein?
Wir entwickeln gerade unsere Strategie weiter. Und hier wollen wir die Prosperität ergänzen mit Freiheit. Die Chinesen wollen auch Prosperität, die Kommunistische Partei muss schliesslich für Wohlstand sorgen, um das Land zusammenzuhalten.
Und sehen Sie die Freiheit auch durch die Corona-Krise bedroht?
In der Schweiz werden Zehntausende in eine Quarantäne geschickt, welche die Freiheit unverhältnismässig einschränkt. Zugleich breitet sich mit den milliardenschweren Hilfspaketen das süsse Gift des Etatismus immer mehr aus. Da braucht es eine starke Stimme wie Avenir Suisse, die auf diese Missstände aufmerksam macht.
Schon vor der Pandemie hatten es liberale Positionen schwer. Die deutsche FDP kratzt an der Fünf-Prozent-Hürde, die Schweizer FDP stagniert. Befindet sich der Liberalismus in der Krise?
Das Liberale ist anstrengend, denn es heisst Wettbewerb, man muss sich täglich einsetzen, man muss eine Extraleistung erbringen. Wenn man an das Schutz- und Sicherheitsbedürfnis der Menschen appelliert, zieht das mehr, als wenn man Innovation, Wachstum und Wettbewerb propagiert. Der Liberalismus ist politisch auch schwierig zu verkaufen, weil er stipuliert, dass man etwas zuerst laufen lässt und nicht immer gleich eingreift.
Wie viel Konservatismus hat im Liberalismus Platz?
Liberalismus ist weder konservativ noch progressiv, sondern gibt grundlegende Strukturen vor. Man hat kein bestimmtes Menschenbild und geht weder vom Schlechtesten noch vom Besten aus: Der Mensch ist also «ni ange, ni bête», wie Blaise Pascal schrieb. Im Liberalismus haben Konservative Platz – man denke an die Rechtssicherheit und den Schutz der Institutionen –, und es hat Raum für Progressive, denen die Vielfalt des menschlichen Zusammenlebens und der Bevölkerungsgruppen sowie die Gleichberechtigung wichtig sind.
Können Sie den politischen Einfluss Ihres Think-Tanks an konkreten Beispielen festmachen?
Wir waren die Ersten, welche die ökonomischen Folgekosten der Landwirtschaft breit thematisiert und nicht zuletzt auf die Umweltkosten hingewiesen haben. Wenn die Bauernlobby nur schon den Namen Avenir Suisse hört, bekommt sie rote Köpfe. Und unser Schattenbudget haben wir mit einzelnen Bundesräten im Detail besprochen, unsere Strategie für ein Freihandelsabkommen mit den USA berechnet im Detail den Wohlstandszuwachs.
Letztlich verhallten Ihre Forderungen nach mehr Markt in der Landwirtschaft jedoch ungehört.
Wer Reformen anstossen will, muss zuerst ein Problembewusstsein schaffen. Dies ist uns gelungen. Es ist heute eine verbreitete Auffassung, dass die protektionistische Agrarpolitik Opportunitäten verhindert, etwa neue Freihandelsabkommen. In einer zweiten Phase geht es nun darum, dass eine Modernisierung stattfindet. Häufig dauert dieser politisch-intellektuelle Reifeprozess lange.
Unser Eindruck ist: Die Politik hört Avenir Suisse gerne zu – aber am Schluss versanden die Ideen regelmässig.
Das stimmt nicht – unsere Studien sind Referenzgrössen. Die enormen volkswirtschaftlichen Kosten des Lockdowns haben wir bereits im März aufgezeigt, jetzt ist die Politik zurückhaltender. Die Einführung der Individualbesteuerung ist heute in aller Munde, wir lieferten die Grundlagen dazu. Oder nehmen wir das Beispiel Mobility-Pricing. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass mit der Anwendung marktwirtschaftlicher Preismechanismen im Verkehr Staus vermieden und die volkswirtschaftlichen Kosten verringert werden könnten. Mittlerweile haben einige Städte bereits beschlossen, Pilotversuche zu starten.
Ihre Denkfabrik produziert fast im Wochentakt neue Studien – viele davon landen praktisch ohne Widerhall in der Versenkung. Wäre mehr Prominenz statt Kadenz nicht zielführender?
Wer sich mit der Zukunft unseres Landes beschäftigt, hat alle Hände voll zu tun. Allenthalben geht vergessen, dass die Wohlstandsmehrung entscheidend ist für die soziale Kohäsion in diesem Land. Schliesslich besteht enormer Verbesserungsbedarf bei den Infrastrukturen. Die Staatsfirmen sind heute die Pandas der Schweizer Wirtschaft. Dass die Steuerzahler mit Postfinance und Co. grosse Risiken eingehen, wird unterschlagen. Sie sehen, es ist nötig, fortwährend und präzise auf Missstände aufmerksam zu machen.
Zu SBB und Swisscom, die beide Förderer von Avenir Suisse sind, liest man bei Ihnen nicht viel, zur Post, die nicht Sponsor ist, dagegen schon. Hat weniger zu befürchten, wer bei Avenir Suisse Beiträge zahlt?
Da muss ich resolut widersprechen. In unserer Privatisierungsagenda kommen SBB und Swisscom prominent vor. Das zeigt: Wir arbeiten völlig unabhängig und sind ausschliesslich dem liberalen Kompass verpflichtet.
Sie waren sehr kritisch gegenüber der Rettungsaktion für die Swiss, obwohl das Unternehmen zu Ihren Sponsoren gehört. Gab das Reaktionen?
Bei mir ging keine Reaktion ein. Unsere Grundüberzeugung heisst «pro Market» und nicht «pro Business». Für uns ist nur entscheidend, ob es eine Fehlentwicklung gibt in der Schweiz. Die Förderer haben am meisten davon, wenn wir uns dezidiert und mit konkreten Vorschlägen für die freiheitliche Rahmenordnung einsetzen.
Engagieren sich Wirtschaftsvertreter heute genug für liberale Werte? Mit der Konzernverantwortungsinitiative scheint sich niemand die Finger verbrennen zu wollen.
Das ist auch mein Eindruck. Aber heute findet ein globaler Kampf um Talente statt. Und gerade multinationale Unternehmen sind zum Glück auch für die besten Leute aus dem Ausland attraktiv. Diese Spitzenkräfte müssen sich vor allem um ihre internationalen Stake- und Shareholder kümmern. In der Schweizer Direktdemokratie ist aber eine «Apolitie» undenkbar. Wirtschaftsverantwortliche kommen nicht darum herum, sich mit dem Ökosystem Schweiz zu beschäftigen. Das Engagement für die Res publica ist auch eine unternehmerische Aufgabe.
Die Unternehmen können sagen, sie hätten ja Avenir Suisse, die für ihre liberalen Werte einsteht, und müssen sich selbst nicht exponieren.
Die öffentliche Meinungsbildung lässt sich nicht an Avenir Suisse oder Wirtschaftsverbände delegieren. Die höchste Glaubwürdigkeit in der Diskussion über wirtschaftliche Rahmenbedingungen besitzen Leute, die in den Unternehmen Führungsverantwortung haben. Das müssen wir multinationalen Grossunternehmen ebenso klarmachen wie kleinen Gewerbebetrieben. Die Stimme der manager- und eigentümergeführten Unternehmen muss wieder hörbarer werden in diesem Land.
Blicken wir mit Avenir Suisse noch in die Zukunft: Ist eine 10-Millionen-Schweiz für Sie ein Schreckgespenst, oder freuen Sie sich darauf?
Es ist doch ein Zeichen für die Attraktivität der Schweiz, dass wir noch wachsen können. Wir schieben das Problem auf die Ausländer, doch es ist hausgemacht. Die gleiche Zürcher Stadtregierung, die Migranten willkommen heisst, verhindert verdichtetes Bauen. Würde man New York, London, Berlin, Paris und Barcelona an die Stelle der grossen Schweizer Städte setzen, käme die Schweiz allein dadurch auf 24 Millionen Einwohner – und es hätte darum herum immer noch viel Platz.
Dieses Interview ist am 27. Oktober 2020 in der NZZ erschienen.