Der Umbruch, der mit dem arabischen Frühling begann, betrifft nicht nur die einzelnen Länder. Wie die Experten an der Herbsttagung zum

«Arab Spring» von Avenir Suisse betonten, verschiebt sich das Kräfteverhältnis in der Region. Und vor allem drohen massive Auswirkungen auf Europa und auf die Geopolitik, wenn die Länder in Nordafrika und im Nahen Osten keine friedliche Entwicklung hin zu Demokratie und Marktwirtschaft schaffen.

«Die Veränderungen in der Region sind eher der zähe Beginn als das ersehnte Ende eines komplizierten politischen und sozialen Prozesses», meinte der Experte Christian Koch vom Gulf Research Center. «Wir werden es im Nahen Osten mit einer stürmischen Zeitspanne zu tun haben, einer Periode, die durchaus fünf, zehn oder sogar zwanzig Jahre in Anspruch nehmen kann.» Durch den «Arab Spring» sei eine neue politische Phase eingeläutet worden, und vom Umbruch bleibe mittelfristig kein Land der Region verschont: Darin stimmten alle Experten überein.

Schon kommen die ersten Rückschläge

Wie sich die einzelnen Länder entwickelten, lasse sich jedoch heute noch nicht abschätzen. Zu erwarten seien letztlich zwar überall mehr Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Transparenz, sagte Koch voraus. Er warnte aber vor verfrühtem Optimismus: «Schon jetzt folgen auf die frühen Erfolge die ersten Rückschläge, und kaum eine Regierung, die in den nächsten Monaten an die Macht kommt, wird angesichts der immensen Probleme und Herausforderungen, die sich ihr stellen, die Erwartungen der Bevölkerung erfüllen können.»

Der ägyptische Unternehmer Naguib Sawiris fand ein treffendes Bild für das Problem, nach Jahrzehnten der Diktatur Demokratie einzuführen: Wer in der Wüste fast verdurstet sei, dürfe das Wasser nicht hinunterstürzen, sondern vorerst nur die Lippen benetzen. Und ähnlich schwer falle es, die Vorzüge der Marktwirtschaft aufzuzeigen: Die Jugend etwa in Ägypten neige der Linken zu, weil das Land zwar bisher ein robustes Wachstum verzeichnete, aber die Bevölkerung davon kaum etwas mitbekam. Jetzt drohten sogar schwere Einbrüche, weil angesichts der fehlenden Stabilität und Rechtssicherheit niemand investieren wolle.

Islam gewinnt, nicht Islamisten

Deshalb dürften sich in den meisten Ländern islamische Parteien durchsetzen, meinten die Experten. «Der politische Islam erlangt eine bedeutend stärkere Stellung», sagte Koch. «Das ist nicht gleichbedeutend mit einer Stärkung des extremistischen Islams – dieser ist durchaus als Verlierer des arabischen Frühlings einzuschätzen.“» Zur Führungsmacht in der Region dürfte sich die Türkei entwickeln, die mit ihrer sunnitischen und traditionell säkularen Ausrichtung weniger Gegner hat als der schiitische Iran.

Die wichtigste Macht blieben aber, trotz havarierter Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit, die USA – mangels Alternative: Auch darin waren sich die Referenten einig. Massiv betreffe der Umbruch die Europäer, warnte Koch: «Sie werden es nicht mehr mit den gleichen konformen Umständen der Vergangenheit zu tun haben, sondern müssen sich auf selbstbewusstere, eigenständige arabische Regierungen einstellen, die durchaus bereit sind, ihre eigenen Interessen mit Nachdruck zu verfolgen.»

«Die Europäer tun nichts»

Die Europäer müssten jetzt im eigenen Interesse eingreifen, um Demokratisierung und Marktwirtschaft zu fördern, mahnten die Experten. Denn wenn die Entwicklung in den arabischen Ländern mit ihrer jungen Bevölkerung scheitere, drohe eine Massenmigration nach Europa. «Die europäischen Regierungen tun nichts», klagte Sawiris. Er rief deshalb das Publikum auf: «Sie fahren besser, wenn Sie jetzt in der Region investieren und Arbeit schaffen.»

Nach diesem «düsteren Podiumsgespräch» gestand Gerhard Schwarz, Direktor von Avenir Suisse, er könne sich nur noch an die Maxime des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci halten: «Wir müssen den Pessimismus des Verstandes mit dem Optimismus des Willens besiegen.»