Haben Sie schon von Monsieur Jourdain gehört, der Hauptfigur in Molières «Le Bourgeois gentilhomme»? Der etwas einfältige Möchtegern-Adelige Jourdain erfährt bei einem Gespräch mit seinem Philosophielehrer zu seinem Erstaunen, dass er schon seit vielen Jahren in Prosa spricht, ohne es zu wissen. Wie Monsieur Jourdain geht es den Schweizer Immobilieninvestoren: Seit Jahrzehnten schaffen sie preisgünstigen Wohnraum, ohne es bewusst anzustreben – und ihnen wird in der breiten Öffentlichkeit diese Gabe auch nicht attestiert.
Was heisst «preisgünstig»?
Eine mögliche Definition einer preisgünstigen Miete legt die Grenze bei 15 Prozent des Bruttomedianeinkommens. Diese Grenze kombiniert die übliche Tragbarkeitsregel (Wohnkosten dürfen 30 Prozent des Bruttoeinkommens nicht übertreffen) mit der relativen Armutsgrenze, die hier bei 50 Prozent des Medianhaushaltseinkommens gezogen wird. Nach dieser Auslegung lag die obere Grenze für eine preisgünstige Wohnung in der Schweiz im Jahr 2020 durchschnittlich bei ca. 1500 Franken pro Monat.
Derart günstige Wohnungen werden heutzutage nicht viele gebaut. Im Jahr 2020 lag die Durchschnittsmiete einer neu erstellten Wohnung bei 1730 Fr. (BFS, 2023a). Vertreter der gemeinnützigen Wohnbauträger interpretieren dies (fälschlicherweise, wie sich zeigen wird) als Beweis dafür, dass gewinnorientierte Wohnbauträger nicht in der Lage sind, genügend preisgünstigen Wohnraum bereitzustellen. Es müssen daher mehr Instrumente ersonnen werden, um den Bau von günstigen Wohnungen zu fördern.
Diese Sicht verkennt eine grundlegende Funktionsweise des Wohnungsmarktes. Von allen Wohnungen sind die neuesten meistens auch die teuersten. Es wäre schlichtweg ineffizient, neue Wohnungen zum Ausbaustandard der alten zu bauen; dafür sind die Kosteneinsparungen zu gering. Zumal der Bauprozess mit hohen Fixkosten verbunden ist (für die Planung, Bewilligung, Baustelle usw.), die vom Ausbaustandard der Liegenschaft weitgehend unabhängig sind.
Auf der Nachfrageseite bevorzugen die Mieter den Komfort und die Wohnqualität der Neubauten; sie sind bereit, dafür einen Aufpreis zu bezahlen. Mit der Zeit nutzen sich aber die Wohnungen ab, und die Bausubstanz verliert allmählich an Wert. Dieser Abschreibungsprozess führt dazu, dass Wohnungen im Laufe ihres Lebenszyklus günstiger werden, zumindest im Vergleich zu Neubauten.
Dieses so genannte «Filtering» findet auch auf dem Schweizer Wohnungsmarkt statt, wie aus der Abbildung ersichtlich ist. Sie zeigt die Verteilung der Mieten nach Baujahr in zwei Referenzjahren, 2000 und 2020. Mit dem Alter der Wohnung nehmen die Mieten tendenziell ab. Der Alterungseffekt setzt erst nach 20 Jahren ein; die Abschreibungsrate scheint also nicht ganz konstant zu sein.
Die gestrichelten Linien entsprechen den Grenzen des preisgünstigen Wohnens in den zwei Referenzjahren, wie sie oben definiert wurden. Im Jahr 2000 lag diese Grenze bei 1365 Fr. pro Monat. Die Durchschnittsmiete von Wohnungen, die vor 1980 gebaut worden waren, lagen damals bereits unter dieser Preisgrenze, nicht jedoch jene, die zwischen 1980 und 2000 erstellt worden waren. Zwanzig Jahre später, im Jahr 2020, war die Mietobergrenze infolge der höheren Haushaltseinkommen auf 1475 Fr. angestiegen. Nun waren auch die Wohnungen mit Baujahr 1980 bis 2000 zum Bestand der «preisgünstigen» Wohnungen hinzugekommen.
Damit kam jedes Jahr in etwa 1 Prozent des Wohnungsbestandes zum Pool der preisgünstigen Wohnungen hinzu. Das sind um die 40’000 Wohnungen, etwas weniger als die gesamte jährliche Neubauproduktion. Zieht man davon die Abbrüche von älteren Gebäuden ab, beträgt die Nettozunahme rund 13’400 Wohnungen pro Jahr. So stellt das Filtering auf dem (weitgehend privaten) Wohnungsmarkt die grösste Quelle von preisgünstigem Wohnraum dar. Zum Vergleich: Die Gesamtproduktion im gemeinnützigen Segment beträgt um die 2000 Einheiten pro Jahr – nicht alle davon preisgünstig.
Reigen der Erschwinglichkeit
Das Filtering funktioniert aber nicht nur im Längsschnitt, indem sich der Wohnungsbestand allmählich abschreibt, sondern auch in der kurzen Frist. Wer nämlich in eine neue, teurere Wohnung einzieht, lässt meistens eine billigere vakant, die dann von einem Haushalt bezogen wird, der bisher selbst in einer noch günstigeren (weil meist älteren) Liegenschaft wohnte. Dass dieser Reigen der Umzüge mehr als ein Gedankenexperiment ist, zeigt eine neue finnische Studie zum Wohnungsmarkt in Helsinki. So finden die Autoren, dass pro 100 neu erstellte, zentral gelegene Wohnungen, die zu Marktkonditionen angeboten werden, etwa 60 preisgünstige Wohnungen anderswo in der Stadt frei werden.
Diese Ergebnisse sind bemerkenswert. Der wachsenden Zahl von «Angebotsskeptikern» in der Schweiz sollten sie zu denken geben: Viele behaupten, Neubauten förderten die Gentrifizierung und drängten bisherige Bewohner aus ihren Quartieren. Doch nicht jeder Neubau muss kostengünstig sein, um das «bezahlbare» Angebot zu vergrössern.
Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie in der neuen Publikation «Mythen und Mieten: Acht Thesen zum Schweizer Wohnungsmarkt auf dem Prüfstand».