Nach der militärischen Invasion der Ukraine vom 24. Februar wurde Russland in kürzester Zeit koordinierten und gewaltigen Wirtschaftssanktionen westlicher Demokratien unterzogen: Unter Führung der USA wurden Putins Regime innerhalb von vier Tagen umfassende Wirtschaftssanktionen von sieben weiteren Wirtschaften auferlegt, darunter der EU und der Schweiz.
Die erste Runde von Sanktionen erschien vorerst harmlos, denn sie betrafen ausschliesslich einzelne russische Banken sowie Technologieexporte nach Russland. In der zweiten Runde wurden die Sanktionen dann allerdings massiv verschärft: So wurde dem russischen Finanzsektor der Zugang zum schnellen Finanznachrichtennetz (Swift) entzogen, das Auslandsvermögen russischer Oligarchen beschlagnahmt und die meisten russischen Zentralbankreserven in Übersee wurden eingefroren. Noch nie zuvor war eine G20-Nation mit so drastischen Wirtschaftssanktionen konfrontiert worden, und noch nie gab es so viele davon in so kurzer Zeit.
Die Betroffenen zwingen, ihr Verhalten zu ändern
Je weiter der Krieg voranschreitet, desto mehr stellt sich die Frage, ob die gegen Russland verhängten Sanktionen greifen – und falls nicht, warum sie nicht aufgehoben werden sollen.
Um Aussagen über die Wirksamkeit von Sanktionen tätigen zu können, muss vorerst deren Zweck klar sein. Ultimatives Ziel ist es, die Betroffenen zu zwingen, ihr Verhalten zu ändern, um die Kosten der Sanktionen zu vermeiden.
Bereits 1967 bezeichnete Johan Galtung diese Vorstellung als «naive Theorie der Sanktionen». Sein Urteil wird dabei von historischen Beispielen gestützt: Verhaltensänderungen wurden durch Sanktionen nämlich nur selten erzielt – insbesondere dann nicht, wenn bewaffnete Konflikte verhindert oder gestoppt werden sollten.
So waren im 20. Jahrhundert nur drei von 19 Versuchen erfolgreich, mit Hilfe von Sanktionen einen Krieg abzuwenden. Von den Erfolgen können zwei dem Völkerbund zugerechnet werden: Dieser erstickte beginnende Grenzkriege zwischen Jugoslawien und Albanien im Jahr 1921 und zwischen Griechenland und Bulgarien 1925. Der dritte erfolgreiche Einsatz von Sanktionen war finanzieller Druck der USA auf das Pfund Sterling, der die britische Militärexpedition nach Ägypten im Suez-Krieg von 1956 beendete.
Wirksamkeit durch multilaterale Koordination
Die Geschichte der Wirtschaftssanktionen zeigt auch, dass sie die höchste Wirksamkeit erreichen, wenn sie mit Verbündeten koordiniert und multilateral umgesetzt werden. Je mehr bedeutende Wirtschaften die Sanktionen mittragen, desto grösser die Kosten für die Sanktionierten. Dadurch wächst auch die Motivation, das Verhalten zu ändern. Mangelhafte Konzeption und Umsetzung von Sanktionsmassnahmen führen hingegen häufig dazu, dass sie nicht die gewünschte Wirkung erzielen.
Ein Misserfolg waren etwa die gegen Russland auferlegten Sanktionen bei der Annexion der Krim 2014. Obwohl diese Massnahmen zusätzliche Kosten für den militärischen Einmarsch auferlegten, zwangen sie Russland nicht zum Rückzug, geschweige denn zur Rückgabe der Halbinsel.
Mit den aktuell gegen Russland auferlegten Sanktionen scheint die Zahl der Misserfolge zu wachsen. Denn auch bei diesen wird das Ziel der Verhaltensänderung verfolgt und bisher nicht erreicht. Die Kosten der auferlegten Sanktionen sind für die russische Wirtschaft jedoch erheblicher als vor acht Jahren: Sie führen wahrscheinlich zu einer der schwersten Wirtschaftskrisen in Russland in den letzten drei Jahrzehnten – am ehesten mit der Transformationskrise von 1992 vergleichbar. Manche Ökonomen rechnen dabei mit einer Rezession von 10–15%. Dabei hängen diese Annahmen aber von einigen Faktoren ab, die noch schwer abzuschätzen sind – wie z.B. davon, ob russischen Unternehmen der Zugang zu Importen aus dem Westen versperrt wird, sodass die Produktion zum Stillstand käme.
Putin von Strafmassnahmen abgeschottet
Dass die Sanktionen ihr Ziel noch nicht erreicht haben, liegt nebst der Enthaltung bedeutender Volkswirtschaften wie China, Indien oder Brasilien insbesondere auch daran, dass Putin und seine Entourage von den Strafmassnahmen weitestgehend abgeschottet zu sein scheinen. Vielmehr treffen die auferlegten Sanktionen die breitere Wirtschaft und somit hauptsächlich die russische Mittelschicht und ärmere Teile der Bevölkerung.
Auch sind Zweifel angebracht, ob ein Ölembargo den Druck auf Putins Regime massgeblich erhöhen und seine Kriegspläne entscheidend stören würde: Zwar machten Ölexporte 2021 ca. 53% der Exporteinnahmen Russlands aus, wobei mehr als die Hälfte dieser Exporte nach Europa ging. Doch erstens würden wichtige Abnehmer wie China, Indien und Co. dieses Embargo nicht mittragen und zweitens sorgt der drastische Preisanstieg für Öl und Gas dafür, dass die Einnahmen auch bei einem Importstopp nach Europa nicht einbrechen. Die Wahrscheinlichkeit ist daher gross, dass sich Europa mit einem Embargo in erster Linie ins eigene Fleisch schneiden würde – entsprechend stösst diese Massnahme innerhalb der EU auf politischen Widerstand.
Mit diesen Erkenntnissen verbindet sich die Frage, warum die Sanktionen also nicht aufgehoben werden, insbesondere nicht von der Schweiz.
Aus Schweizer Sicht darf sich die Diskussion nicht nur um die Effektivität drehen. Die Sanktionen des Westens setzen nämlich vor allem auch ein internationales Signal gegen die rechtswidrige Aggression autokratischer Staaten. Die Diskussion müsste somit eher auf dem Fall eines Ausscherens der Schweiz gelenkt werden. Bei einem weniger umfassenden Mittragen der Sanktionen würde die Schweiz das Verhalten Russlands implizit tolerieren und so die Gemeinschaftsaktion des Westens untergraben. Dadurch würde unser Land einen massiven Reputationsverlust bei ihren wichtigsten Handelspartnern, der EU und den USA, erfahren. Weiter wäre aber auch mit direkten Sanktionen aus Washington D.C. zu rechnen: So wurden bereits Schweizer Banken vom US-Botschafter in Bern für den Fall gedroht, nicht alle auffindbaren Gelder von sanktionierten Russen zu beschlagnahmen. Ähnliche Sanktionen wären von der EU zu erwarten.
Die Kosten einer direkten Provokation und potenziellen Konfrontation mit der EU und den USA wären für die Schweiz bei weitem grösser als jene einer Entkopplung der russischen Wirtschaft. Die geringe Bedeutung Russlands für die Schweiz als Handelspartner und Investor im Vergleich zur EU und den USA (vgl. Abbildung) verdeutlicht diesen Punkt.
Die Übernahme der Sanktionen des Westens ist somit aus wirtschaftlicher Sicht eine pragmatische Lösung für die Schweiz. Doch auch aus Sicht der Wertevertretung darf die Schweiz von ihrer bisherigen Positionierung nicht abweichen; dadurch würde sie nicht nur sich selbst schaden, sondern auch den Zusammenhalt westlicher Demokratien untergraben.