Die Schweizer Sicherheits-politik befindet sich in einer Phase der Stagnation. Die Debatten drehen sich um die Bestandesgrösse der Armee, nicht aber um die Frage, wie sich die Schweiz im gegenwärtigen weltpolitischen Umfeld sicherheits- und verteidigungspolitisch positionieren sollte.
Die seit dem strategischen Wandel zu Beginn der 1990er Jahre von kurzfristigem Denken geprägte Debatte über die Sicherheitspolitik und die Armee muss auf eine politisch-strategische Ebene gehoben und somit wieder neu belebt werden. Soll die Diskrepanz zwischen den schweizerischen Verteidigungsvorstellungen und den europäischen Realitäten nicht noch grösser werden, sollten die entsprechenden Problemfelder unvoreingenommen diskutiert werden können. Als Grundlage dafür muss eine Lagebeurteilung des Bundesrates dienen, die alle Vorteile und Probleme einer sicherheitspolitischen und militärischen Zusammenarbeit in Europa beleuchtet, ohne dabei Fragen heiklerer Natur wie jene nach dem Stellenwert der Neutralität zum vorneherein auszublenden.
Die strategische Ausrichtung ist weit von der Realität entfernt
Wenn der gegenwärtige sicherheits- und verteidigungspolitische Kurs der Schweiz eingehalten werden sollte, dürften sich die Widersprüche zwischen den weltpolitischen Realitäten und der strategischen Ausrichtung des Landes in den nächsten Jahren noch akzentuieren. Eine Konzeption, die wie die schweizerische zwar von der Voraussetzung ausgeht, dass eine umfassende Sicherheit praktisch nur noch in internationaler Zusammenarbeit gewährleistet werden kann, die Armee aber – im Gegensatz zur Aussenwirtschaftspolitik, zum Nachrichtendienst und zur Polizei – nur in kleinen Segmenten an dieser Kooperation teilhaben lassen will, ist nicht plausibel.
Nur wenn die Armee Aufträge erfüllt, die auf Grund der herrschenden Sicherheitslage im Vordergrund stehen, wird sie auch die Ressourcen erhalten, die für die Weiterentwicklung auf mittlere und längere Sicht nötig sind. Einer solchen Grundsatzdebatte, in der Kooperationsfragen einen zentralen Platz einnehmen müssen, kann das Parlament nicht mehr länger ausweichen.
Einem strategischen Dialog zwischen Politik und Militär muss deshalb wieder grössere Bedeutung zugemessen werden, auch mit dem Ziel, die innenpolitische Blockierung aufzubrechen. Dieser Dialog ist kontinuierlich zu führen und nicht erst dann einzuleiten, wenn einschneidende Reformen in Angriff zu nehmen sind. Denn nur so lässt sich der offenkundige Wissensgraben zwischen den Sicherheitspolitikern im Parlament und den Fachleuten im Verteidigungsdepartement und in der Armee allmählich überbrücken. Damit liesse sich auch eine engere Koordination des sicherheitspolitischen Instrumentariums auf Grund eingehender Lagebeurteilungen erreichen.
Verteidigung ist mehr als Abwehr
In diesem Zusammenhang ist vor allem auch der Begriff «Verteidigung» zu klären. Verteidigung wird vielfach immer noch als Abwehr eines konventionellen militärischen Angriffs verstanden wird. Ein weit gefasster Schutz- und Verteidigungsbegriff, wie ihn etwa Frankreich in seinem «Livre blanc sur la défense et la sécurité nationale» für das gesamte Spektrum seiner Sicherheitsvorkehrungen – also auch für die nukleare Ebene – verwendet, entspräche der strategischen Lage wohl am besten.
Verteidigungsplanung bedeutet unter den gegenwärtig herrschenden Umständen, möglichst flexibel vorzugehen und somit anpassungsfähig zu bleiben mit dem Ziel, mit Unwägbarkeiten zu Rande kommen zu können. Für die Schweizer Armee und für das ganze Land geht es darum, mit Blick auf ein weites, vorderhand diffuses Bedrohungsspektrum aktionsfähig zu bleiben, wobei sich der zahlenmässige Umfang des militärischen Instruments nie genau festlegen lassen wird. Und so gesehen ist es wenig sinnvoll, jetzt nach einer Doktrin, das heisst: nach Grundprinzipien für den Einsatz zur Abwehr eines militärischen Angriffs, zu rufen, wie dies nicht wenige im traditionellen Denken verhaftete Politiker und Militärs verlangen. Da die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen fehlen, begäbe man sich auf einen gefährlichen Pfad. Man würde sich zwangsläufig an den Erfahrungen aus den Zeiten des Kalten Krieges oder an Kriegsbildern im Irak und in Afghanistan orientieren.
Zum Autor: Bruno Lezzi, promovierter Historiker, war von 1984 bis 2009 Redaktor für Sicherheits- und Militärpolitik bei der neuen Zürcher Zeitung. Zurzeit ist er Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.