Ungleichheit begegnet uns an vielen Orten: So gibt es zum Beispiel Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, Altersklassen und Regionen. Aber auch die Löhne und das Vermögen sind ungleich verteilt – ein Umstand, dem in der gesellschaftlichen Diskussion besondere Bedeutung beigemessen wird. Unter anderem besteht die Sorge, dass Arme immer ärmer und Reiche immer reicher werden. Doch wie steht es wirklich um die Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Schweiz?

Ein Hinweis darauf gibt der Gini-Koeffizient: Dieser misst den Grad der Ungleichheit in der Einkommensverteilung einer Volkswirtschaft. Während bei einem Wert von 0 alle gleichviel verdienen würden, wäre das gesamte Einkommen bei einem Wert von 1 auf eine Person konzentriert. Der Gini-Koeffizient liegt in der Schweiz beim Einkommen vor Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bei 0,43 und beim verfügbaren Einkommen – dem Einkommen, das den Haushalten effektiv für Konsum und Ersparnis zur Verfügung steht – bei 0,29 (BFS 2021). Die Einkommensungleichheit wird also über das Steuer- und Sozialversicherungssystem deutlich vermindert.

Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz bei der Einkommensungleichheit im Mittelfeld. Während die Löhne beispielsweise in den skandinavischen Ländern etwas gleichmässiger verteilt sind, ist die Ungleichheit in Italien, Spanien und Portugal grösser (OECD 2019). Der Gini-Koeffizient ist in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten stabil geblieben, die Einkommensungleichheit hat also weder zu- noch abgenommen (BFS 2021).

Ungleicher als die Einkommen sind in der Schweiz – wie auch in vielen anderen Ländern – die Vermögen verteilt: Gemäss einer Auswertung der Eidgenössischen Steuerverwaltung ESTV lag der Gini-Koeffizient im Jahr 2015 bei den Haushaltsvermögen bei 0,86. Dieser hohe Wert erklärt sich damit, dass (anders als bei den Einkommen) rund ein Viertel der Haushalte über kein Vermögen verfügt. Weitere 30% der Haushalte besitzen ein Vermögen von weniger als 50’000 Franken. Demgegenüber gehört den reichsten 1% rund 40% des Gesamtvermögens. Die Vermögenskonzentration der Reichsten nimmt jedoch auf rund 25% ab, sobald die Altersvorsorge berücksichtigt wird: Denn Arbeitnehmerinnen und -nehmer sparen während des Erwerbslebens ein beträchtliches Vermögen in der Pensionskasse und der Säule 3a an (Föllmi und Martínez 2017).

Ungleich ist nicht gleich ungerecht

Damit wäre jedoch erst die Frage geklärt, wie viel Ungleichheit es gibt – jedenfalls in Bezug auf die Einkommen und Vermögen. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, wieviel Ungleichheit sein darf. Zwar setzt sich die Forschung mit Fragen auseinander, wie sich etwa eine zunehmende Ungleichheit auf die Gesellschaft auswirkt oder in welchem Zusammenhang Wirtschaftswachstum und Ungleichheit stehen. Eine eindeutige Antwort darauf, ab wann zu viel oder zu wenig Ungleichheit herrscht, gibt es jedoch nicht. Denn, die Frage ab welchem Mass Ungleichheit als störend wahrgenommen wird, kann nur individuell beantwortet werden und unterscheidet sich je nach Kultur und Gesellschaft. Treffender wäre deshalb wohl die Frage: Wie viel Ungleichheit wollen wir?

«Ungleich» wird oft negativ wahrgenommen und mit Ungerechtigkeit gleichgesetzt. Doch Ungleichheit ist nicht per se schlecht: In einer freien und offenen Gesellschaft sollen Unterschiede zugelassen werden. Denn Individuen haben unterschiedliche Interessen, Wünsche und Fähigkeiten. Zudem dient die Ungleichheit auch als Anreiz, Besonderes zu leisten: Würden beispielsweise alle gleich viel verdienen, so wären wohl nur wenige dazu bereit, einen Beruf auszuüben, der eine höhere Ausbildung und Verantwortungsbereitschaft voraussetzt.

Chancen- statt Ergebnisgleichheit

Da wir alle unterschiedliche Fähigkeiten haben und jede und jeder bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen kann, welche Anstrengungen für die Bildungs- und Berufslaufbahn unternommen werden, empfinden es auch die meisten als gerecht, dass nicht alle die gleichen Ergebnisse erzielen: So ist es beispielsweise für die meisten nachvollziehbar, dass jemand nach einem fünfjährigen Studium mehr verdient als jemand ohne nachobligatorische Bildung. Gleichzeitig gibt es viele Faktoren, die ausserhalb unserer Einflussmöglichkeiten liegen, zum Beispiel mit welchem Geschlecht, mit welchem Gesundheitszustand, in welche Familie oder in welchem Land man geboren wird. Gerade diese unbeeinflussbaren Startbedingungen werden oft als ungerecht empfunden: Viele wünschen sich deshalb eine Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben, ihr Potenzial zu entfalten, unabhängig der kulturellen und sozialen Herkunft.

Während die vollkommene Chancengleichheit wohl Wunschdenken bleibt, haben Rahmenbedingungen durchaus einen Einfluss darauf, inwiefern die Erfolgschancen von äusseren Faktoren wie zum Beispiel der Herkunft abhängen. Dies zeigt sich am Beispiel der Bildung: Zwar dürften nie alle Schülerinnen und Schüler die identischen Voraussetzungen für die Bildungslaufbahn haben oder auf die gleichen Unterstützungsmöglichkeiten durch das Umfeld zurückgreifen können. Die Ausgestaltung des Bildungssystems kann jedoch wesentlich dazu beitragen, die Chancengleichheit zu erhöhen – man denke dabei etwa an den kostenlosen Zugang zu Bildung und Lehrmaterialien.

In einer Gesellschaft, die Chancengleichheit anstrebt, sollte der wirtschaftliche und gesellschaftliche Auf- und Abstieg – sprich, die soziale Mobilität – funktionieren. (Unsplash)

Ungleichheit nicht über Generationen weitergeben

In einer Gesellschaft, die Chancengleichheit anstrebt, sollte der wirtschaftliche und gesellschaftliche Auf- und Abstieg – sprich, die soziale Mobilität – funktionieren. Inwiefern der wirtschaftliche Erfolg von der sozialen Herkunft abhängt, untersuchen Chuard-Keller und Grassi (2021), indem sie die generationsübergreifende Einkommensmobilität für die Schweiz ermitteln – also wie stark das Einkommen eines Kindes von jenem der Eltern abhängt. Die Analyse zeigt, dass die Einkommensmobilität in der Schweiz höher ist als in anderen Ländern: Das Einkommen hängt hierzulande weniger stark von jenem der Eltern ab als dies in Schweden, Italien oder der USA der Fall ist. Zudem leben in der Schweiz mehr Kinder den American Dream als beispielsweise in den USA. In der Schweiz schaffen es rund 12% der Kinder mit Eltern, die zu den 10% der Bevölkerung mit den tiefsten Einkommen gehören, einen Lohn zu erzielen, mit dem sie zu den 10% mit den höchsten Einkommen zählen. In den USA ist dies nur bei 7,5% der Kinder aus den einkommensschwächsten Familien der Fall. Die Wahrscheinlichkeit den amerikanischen Traum zu leben, ist in der Schweiz im Übrigen für Kinder mit Migrationshintergrund der zweiten Generation höher als für Kinder, deren Eltern in der Schweiz geboren sind.

Diese hohe Einkommensmobilität mag erstaunen, da die Schweiz eine eher tiefe Bildungsmobilität aufweist: Die Bildungslaufbahn eines Kindes hängt stark vom Einkommen und der Bildung der Eltern ab. Weniger als 10% der Kinder mit einem Vater, der weniger verdient als 50% der Bevölkerung, besuchen das Gymnasium. Im Gegensatz dazu liegt dieser Anteil bei Kindern mit einem Vater, dessen Einkommen zu den 10% höchsten der Bevölkerung zählt, bei über 40%. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, das Gymnasium zu besuchen, rund fünfmal so hoch, wenn mindestens ein Elternteil im Gymnasium war (Churad-Keller /Grassi 2021).

Bildung als Schlüssel zu mehr sozialer Mobilität

Eine mögliche Erklärung dafür, dass eine hohe Bildungsmobilität – im Sinne von akademischer Bildung – in der Schweiz keine Voraussetzung für eine hohe Einkommensmobilität ist, liegt in der Durchlässigkeit des Bildungssystems. Denn Bildungslaufbahnen, die auf einer Berufsbildung basieren, sind einerseits attraktiv für Kinder aus einkommensschwächeren Familien, da sie mit tieferen Kosten für die Familie verbunden sind: Bereits während der Lehre wird ein kleiner Lohn ausbezahlt und weiterführende Bildungsgänge können oft berufsbegleitend absolviert werden. Andererseits bietet ein anschliessender Abschluss der höheren Berufsbildung oder einer Fachhochschule gute wirtschaftliche Aufstiegschancen.

Abschliessend kann festgehalten werden, dass es auf die Frage, wie viel Ungleichheit es sein darf, nicht die eine richtige Antwort gibt. In einer modernen Gesellschaft sollte jedoch weniger die Beseitigung von Ungleichheit im Vordergrund stehen – vielmehr sollte der Fokus auf der Chancengleichheit liegen. Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dazu führen, dass der wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfolg in erster Linie von den eigenen Fähigkeiten, Wünschen und Leistungen abhängt und weniger durch die soziale oder kulturelle Herkunft bestimmt wird. In der Schweiz ist dies bis anhin nicht allzu schlecht gelungen, was unter anderem dem durchlässigen Bildungssystem zu verdanken ist.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe «38/2021» von «Terra Cognita».