Wie stark steigen die Löhne in der Schweiz? Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als eindeutig. Sie ist jedoch zentral, gerade bei den Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Allein für die Schweiz gibt es mehrere Erhebungen zu den Löhnen, die unter anderem vom zuständigen Bundesamt für Statistik (BfS) regelmässig aufbereitet und veröffentlicht werden. Je nach Datenquelle stellt man für die vergangenen 22 Jahre ein reales Lohnwachstum von 13 bis 38% fest. Wie sind solche Unterschiede möglich? Gibt es eine «richtige» Statistik? Ein Blick auf die einzelnen Erhebungen und Zeitreihen gibt Aufschluss darüber.

Auf die Quelle kommt es an

Im Wesentlichen gibt es vier Erhebungen, die Lohninformationen systematisch sammeln. Sie haben alle unterschiedliche Datengrundlagen und Methoden:

  • Der Schweizerische Lohnindex (SLI) beruht auf Monats-Bruttolöhnen aus rund 250’000 jährlichen Unfallmeldungen in der Schweiz.
  • Die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (Sake) führt jährlich rund 120’000 Personenbefragungen durch. Nebst den Monatslöhnen werden (un)regelmässige Lohnbestandteile wie Nachtarbeitsentschädigungen oder Boni erfasst.
  • Die Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) umfasst detaillierte Lohninformationen von über 2 Millionen Arbeitnehmenden, welche von 36’000 Unternehmen stammen. Wie bei der Sake werden nebst den Bruttolöhnen (un)regelmässige Lohnbestandteile berücksichtigt.
  • Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) ist eine Gesamterhebung und misst die Arbeitsentschädigung der Arbeitnehmenden und Selbständigen anhand der AHV-Löhne.

Nebst der Messung der Lohnbestandteile unterscheiden sich die Erhebungen in ihrem Stichprobenumfang und der genutzten Datenbasis. Da die VGR und LSE auf Registerdaten, bzw. vertraglichen (Unternehmens-) Informationen aufbauen, weisen sie eine grössere Präzision bei den Löhnen auf als die Sake, welche als Personenbefragung eine etwas geringere Genauigkeit besitzt, weil die Angaben auf Selbsteinschätzungen der Befragten beruhen.

Ein internationaler Spezialfall ist der SLI – die in den Medien am häufigsten verwendete Zahl. Als einziger (uns bekannter) Index verwendet er die jährlichen Unfallmeldungen als Datengrundlage. Dies stellt eine besondere methodische Herausforderung dar, wie zuletzt in der Covidpandemie deutlich wurde. So führte unter anderem die markante Zunahme der Berufsunfälle im Gesundheitssektor zu Verzerrungen in der Statistik, welche methodische Anpassungen des Indexes durch das BfS notwendig machten.

Was zeigen diese verschiedenen Reihen konkret? Wie in der Abbildung dargestellt, wies der SLI zwischen den Jahren 2000 und 2022 das geringste Lohnwachstum (+13%) auf. Allein zur Sake-Reihe betrug die Differenz bereits 10 Prozentpunkte. Die LSE und VGR-Löhne weisen sogar eine rund 20 Prozentpunkte höhere Wachstumsrate als der SLI aus. Dafür verantwortlich sind nicht nur die Differenzen in der Datenerhebung: Auch die Art und Weise, wie diese Informationen weiterverarbeitet werden, erklärt die Unterschiede.

Die Konstruktion der Datenreihen ist entscheidend

Während die Sake- und LSE-Zeitreihen einfache Durchschnitte oder Mediane darstellen, ist der SLI methodologisch mit dem Landesindex der Konsumentenpreise (LIK) vergleichbar: Dieser misst die Entwicklung der Konsumentenpreise für einen bestimmten Warenkorb, und die Zusammensetzung des Warenkorbs wird in einem spezifischen Basisjahr fixiert. Übertragen auf den Lohnindex SLI bedeutet dies, dass der SLI die Lohnentwicklung, bzw. das Lohnwachstum für eine konstant gehaltene Branchenstruktur und konstant gehaltene Eigenschaften der Arbeitnehmenden (Geschlecht, Arbeitspensum) misst. Der Strukturwandel – der oft dazu führt, dass Arbeitnehmer von eher schlecht bezahlten in besser bezahlten Branchen wechseln – wird damit statistisch «eingefroren». Aus diesem Grund eignet sich der SLI besonders für Analysen des Teuerungseffekts bzw. der realen Lohnentwicklung, weil die Entwicklung für gegebene Eigenschaften der Arbeitnehmenden ermittelt wird.

Welche Quelle für die Messung des Lohnwachstums?

Für Lohnanalysen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene – inklusive berücksichtigtem Strukturwandel – ist hingegen die VGR besser geeignet, weil hier die Lohnbestandteile am umfassendsten abgebildet werden. Eine zentrale Einschränkung der VGR liegt allerdings darin, dass nur ein Durchschnitt berechnet wird – ohne Aufteilung nach Branche. Zudem erscheinen die Daten mit grosser Verzögerung.

Gerade für langfristige Analysen des Medianlohns besitzt schliesslich die LSE grosse Vorteile. Einerseits misst die LSE die Lohnkomponenten detaillierter, andererseits werden die Angaben direkt bei den Unternehmen erfasst. Weil in ihrem Umfang nebst den Löhnen weitere Charakteristiken wie das individuelle Alter, die Qualifikationen und ausgeübte Berufe erhoben werden, bietet sich eine Vielzahl an weiteren spezifischen Lohnanalysen. Diese können die allgemeine Lohndiskussionen wertvoll ergänzen, weil Sie nicht nur die Frage nach dem Ausmass des Lohnwachstums beantworten, sondern auch helfen können, Gründe für das beobachtete Lohnwachstum zu finden.

Die Frage nach der «richtigen» Lohnstatistik lässt sich somit nicht eindeutig beantworten. Je nachdem, welche Charakteristiken der Löhne man messen – oder eben nicht messen möchte – fällt die Antwort anders aus. Entsprechend ist jeweils Vorsicht geboten, wenn in Politik und Medien mit besonders hohen oder niedrigen Lohnwachstumsraten hantiert wird.