An die Arbeit!, heisst es für den Bundesrat und das Parlament, nachdem die Wahlen letztes Jahr (zu) viel Energie absogen. Welche Probleme muss die Politik dringend anpacken? Diese Frage beantworteten 37 führende Ökonominnen und Ökonomen in der Schweiz in einer Umfrage von Avenir Suisse. Die Ergebnisse diskutierten Experten am 10. Januar an einem gutbesuchten Abendlichen Gespräch.

Die Umfrage möge manipuliert erscheinen, sagte Gerhard Schwarz, Direktor von Avenir Suisse: «Sie ist eine schöne Bestätigung dessen, was wir machen.» Die Ökonomen mussten von 15 Reformprojekten für die Legislatur 2011/15 die fünf dringlichsten bezeichnen und gewichten ­(siehe Tabelle). Dabei beurteilten sie drei Projekte als prioritär, an denen Avenir Suisse derzeit schwergewichtig arbeitet. Zum Vorschlag, die Verschuldung der Sozialversicherungen mit einer Schuldenbremse zu stoppen, legten Lars Feld und Christoph Schaltegger für Avenir Suisse im November 2011 die Studie «Soziale Sicherheit sichern» vor. Das Projekt, die Mehrwertsteuer mit einem Einheitssatz und dem Abschaffen von möglichst vielen Ausnahmen radikal zu vereinfachen, findet sich im Essayband «Steuerpolitische Baustellen», herausgegeben von Gerhard Schwarz und Marco Salvi, der jetzt erscheint. Und zum Problem, wie sich die Rentenparameter in der AHV und der Beruflichen Vorsorge aus dem Griff der Politik befreien lassen, arbeitet ­Avenir Suisse derzeit an einer Studie, die im Herbst herauskommt.

Giorgio Behr, Hansjörg Blöchliger, Aymo Brunetti und Gerhard Schwarz im Gespräch

Hangeln von einer Krise zur nächsten

Beim Abendlichen Gespräch stimmten die Experten diesen Stossrichtungen zu, legten aber teils die Schwergewichte anders. Aymo Brunetti, bis Ende Januar noch Chefökonom im Staatssekre­tariat für Wirtschaft Seco, wies darauf hin, dass auch die Schweizer Wirtschaftspolitiker in den letzten Jahren keine langfristigen Projekte verfol­gen konnten: «Wir hangelten uns von einer Krise zur nächsten.» Die Schweiz stehe zwar noch gut da, aber sie dürfe nicht in Selbstzufriedenheit verfallen und müsse ihre Standortvorteile bewahren, vor allem die Personenfreizügigkeit und – eng damit verbunden – den flexiblen Arbeitsmarkt ohne generellen Mindestlohn. Jetzt gelte es, den Kompass für die Wirtschaftspolitik wieder langfristig auszurichten: Der Bundesrat erarbeite derzeit ein weiteres Wachstumspaket, das viele der Vorschläge von Avenir Suisse enthalte.

Die OECD gehe beim Festlegen der Prioritäten gleich vor wie Avenir Suisse, betonte Hansjörg Blöchliger, Senior Economist bei der OECD, sie komme aber teils zu anderen Ergebnissen. In Kontinentaleuropa, also auch in der Schweiz, herrsche eine «finanzpolitische Besessenheit»: das Bestreben, mit Sanierungen und Fiskalreformen die Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Quoten liessen sich aber nicht nur mit einem kleineren Nenner, sondern auch mit einem grösseren Zähler verbessern. Die OECD empfehle deshalb eher Reformen der Marktstruktur, die das Wachstum, also den Zähler erhöhen würden, in der Schweiz vor allem beim Service public, bei der Landwirtschaft oder bei der Energie, mit einer ökologischen Steuerreform, die verzerrende Steuern abschaffe.

Dem Volk die Dinge besser erklären

«Nicht der Befund, sondern die Umsetzung ist das Problem», meinte Giorgio Behr, CEO und VR-Präsident der BBC Group. Die Schweiz habe ihre Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren im Würgegriff der EU und der USA betreiben müssen: «Und wenn wir gewürgt werden, verkaufen wir unser Röcheln noch als Jodeln.» Wir müssten einerseits besser sein als die EU, also einen USP aufbauen, und anderseits verstehen lernen, wie die EU denke. Als die drei Kostentreiber der Schweiz bezeichnete der Unternehmer die Alterung, das Gesundheitswesen und den öffentlichen Verkehr. Um sie in den Griff zu bekommen, müssten die Wirtschaftspolitiker «einfacher werden, also weniges richtig durchziehen». Und vor allem müssten sie dem Volk «die Dinge» erklären, um es für Reformen zu gewinnen.

Welche Projekte lassen sich umsetzen? Wer die Vergleiche der OECD anschaue, sehe gar kein Problem, stellte Hansjörg Blöchliger fest, denn bei der Altersvorsorge oder der Mehrwertsteuer stehe die Schweiz «wunderbar» da: «Es gibt keinen Leidensdruck.» Damit es gar nicht dazu kommt, gelte es weitsichtige Projekte voranzutreiben, betonte Aymo Brunetti. Die Schweiz habe in den letzten Jahren mit erfolgreichen ­Reformen die niedrig hängenden Früchte gepflückt; jetzt werde die Aufgabe (noch) schwieriger. Neben «vielen, vielen kleinen Schritten» wünschte er sich deshalb für die kommenden vier Jahre bescheiden: «Wir müssen uns bei den grossen Themen über den Weg klarwerden.»