Die ohnehin anspruchsvolle Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen wird gegenwärtig durch die Pandemie erschwert: Einerseits stehen weniger geeignete Stellen offen, anderseits dürfte sich die Zahl der IV-Anmeldungen erhöhen, weil seit Ausbruch der Coronakrise rund sechsmal mehr Personen unter Symptomen einer schweren Depression leiden. Die kantonalen IV-Stellen stehen somit vor einer doppelten Herausforderung. Doch wie reihet sich die aktuelle Entwicklung im langfristigen Durchschnitt? War die IV bereits mit solchen hohen Anmeldungsquoten konfrontiert? Und wie hat sich bisher die Forderung «Eingliederung vor Rente» bewährt? Dies zeigt eine Studie von Avenir Suisse auf, die am 13. April 2021 publiziert wird.
Diskussionen über die Invalidenversicherung (IV) waren und sind immer sehr emotional. Mitte der 2000er Jahren, als die Anzahl Neurentner, auch im internationalen Vergleich, stark zunahm, entfachte sich die Debatte über sogenannte «Scheininvalide», also IV-Rentner, die angeblich ein normales Leben führen können, aber dennoch Leistungen aus der IV beziehen. Seitdem wurden zahlreiche Reformen unternommen und die Anzahl Neurenten ging zurück.
Auch im Jahr 2021 wird die IV zu reden geben. Behördlich angeordnete Einschränkungen der wirtschaftlichen Tätigkeiten, wie Geschäftsschliessungen und das Verbot kultureller und sportlicher Anlässe, lösen bei den betroffenen Personen teilweise Existenzängste aus, die zu schweren psychische Erkrankungen führen können. Die Homeoffice-Pflicht und die Einschränkungen von Freizeitaktivitäten unterbinden soziale Kontakte, die für das Wohlergehen breiter Bevölkerungsschichten mitentscheidend sind. Und enge Wohnverhältnisse bei unklaren Perspektiven erhöhen zudem das Risiko für häusliche Gewalt. Gemäss der «Swiss Corona Stress Study» ist der Anteil von Personen mit Symptomen einer schweren Depression seit dem Pandemieausbruch im April 2020 bis November 2020 um den Faktor 6 gestiegen, von 3% auf 18%. Während ein Teil dieser Symptome bei einer allfälligen Wiederaufnahme des «normalen» Lebens wieder verschwindet, werden viele Personen langfristig unter psychischen Erkrankungen leiden. Ihre Rückkehr in den Arbeitsmarkt wird aufgrund der aktuellen erhöhten Arbeitslosigkeit umso schwieriger.
Eingliederung vor Rente als Grundpfeiler der Invalidenversicherung
Eine deutliche Erhöhung der IV-Anmeldungen wäre allerdings kein Neuland für die Schweiz. Die Anzahl Neurenten variierte über die letzten 25 Jahre signifikant. Da in diesen Zeitraum die Wohnbevölkerung um 1,5 Mio. Menschen zugenommen hat, ist es sinnvoll, die Entwicklung der Neurenten nicht in absoluten Zahlen, sondern in Prozenten der Bevölkerung zu betrachten (Neurentenquote). Dabei lassen sich die Effekte von Reformen beobachten (vgl. Abbildung).
1995, vier Jahre nach dem Inkrafttreten der 3. IVG-Revision, betrug die Neurentenquote 0,54% der Bevölkerung und stieg um 10% bis zum höchsten Wert von 0,59% im Jahr 2003. Dann trat die 4. IVG-Revision in Kraft, die unter anderem die Einrichtung regionaler ärztlicher Dienste (RAD) vorsah, die die medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs beurteilen.
Bei der 5. IVG-Revision wurde der Akzent auf die Früherfassung und Frühintervention gesetzt, und die Massnahmen für die (Wieder-) Eingliederung besonders von psychisch Kranken und beruflich unqualifizierten Personen wurden ausgebaut. Das Leitmotiv lautete «Eingliederung statt Rente». Die Neurenten gingen weiter leicht zurück.
Mit der IVG-Revision 6a erhielt die Invalidenversicherung 2012 zusätzliche Instrumente für die Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderung ins Erwerbsleben. Dank des neuen Assistenzbeitrags können zudem mehr Menschen mit Behinderung ihre Pflege und Betreuung selbst organisieren und zuhause ein eigenständiges Leben führen. Nachdem die Neurentenquote 2013 auf das halb so hohe Niveau wie zehn Jahre zuvor, nämlich 0,26% gesunken ist und vier Jahre lang auf diesem Niveau verharrte, nimmt sie seitdem leicht zu und erreichte 0,3% 2019.
Die Revision 6a sah vor allem zusätzliche Mittel vor, die mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer von 0,3 Prozentpunkte finanziert wird. Die Revision 6b, die hätte folgen müssen und strukturelle Massnahmen vorsah, hat jedoch die parlamentarische Hürde nie geschafft. 2020 gelang ein neuer Anlauf einer Reform unter dem Namen «Weiterentwicklung der IV» mit einem Fokus auf die Integration von Jugendlichen und Menschen mit psychischen Problemen. Diese wird voraussichtlich im Januar 2022 in Kraft treten. Wie sich die Covid-19-Pandemie auf die Entwicklung der Neurenten entwickeln wird, ist offen. Es ist jedoch mit deutlich mehr Anmeldungen und eine schwierigere Eingliederung der Menschen mit Behinderung im primären Arbeitsmarkt zu rechnen, solange Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivitäten zur Bekämpfung der Virusverbreitung bestehen bleiben.
IVG-Revisionen mit Erfolgen, aber auch Verlagerungen in die Sozialhilfe
Eine umfangreiche Analyse im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) hat den Einfluss der seit der 4. IVG-Revision angelegten Neuausrichtung der Invalidenversicherung auf die Eingliederung untersucht. Der Fokus auf die Eingliederung hat sich seitdem tatsächlich deutlich verstärkt. In diesem Zeitrahmen verdreifachte sich der Anteil der bei der IV angemeldeten Personen, die eine externe Eingliederungsmassnahme bezogen. Der Anteil der zugesprochenen Renten ging zudem von 26% auf 23% der Antragssteller zurück. Zum Teil verbesserte sich die finanzielle Situation der abgewiesenen Personen, während andere stärker von der Sozialhilfe abhängig waren.
Im Vergleich zu den Kohorten vor der 5. IVG-Revision ist nämlich der Anteil der Personen, die vier Jahre nach der IV-Anmeldung erwerbstätig sind und keine IV-Rente erhalten, von 50% auf 58% angestiegen. Demgegenüber ist der Anteil an Personen mit einer IV-Rente, die neben der IV-Rente noch ein Erwerbseinkommen erzielen, von 9% auf 5% gesunken. Insgesamt ist somit die Erwerbsquote von 59% auf 63% angestiegen. Dabei sind im Vergleich zu früher verhältnismässig mehr Personen nach der IV-Anmeldung wirtschaftlich unabhängig (Erwerbseinkommen von über 3000 Fr. im Monat). Die Eingliederungsstrategie war offensichtlich erfolgreich für die betroffenen Personen, die ihr Leben wirtschaftlich selbständig führen können, wie für die Finanzen der IV.
Gleichzeitig stieg der Anteil von Personen, die im vierten Jahr nach ihrer Anmeldung bei der IV Sozialhilfe beziehen, von 11,6% (Kohorte 2006) auf 14,5 % (Kohorte 2013), was einer Zunahme der Quote um 25% entspricht. In absoluten Zahlen bedeutet dies eine Zunahme der Anzahl Sozialhilfebezüger von rund 2100 Personen.
Die Bedeutung einer raschen (Wieder-) Eingliederung
Die obige Studie im Auftrag des BSV zeigt es deutlich: Das Risiko eines Sozialhilfebezugs nach einer IV-Anmeldung ist vergleichsweise gering bei Personen, die zum Zeitpunkt der IV-Anmeldung noch erwerbstätig waren und rund vier Mal höher, wenn schon bei der IV-Anmeldung kein Erwerbseinkommen mehr erzielt wurde. Dies unterstreicht die Bedeutung, möglichst rasch, noch vor einem allfälligen Stellenverlust, zu intervenieren. Pandemie hin oder her.
Wie kann man also Personen, die aufgrund psychischer oder physischer Beschwerden bei der IV neu angemeldet werden, bei der Rückkehr in den primären Arbeitsmarkt unterstützen? Welche Rolle spielen dabei die kantonalen IV-Stellen, und wie erfolgreich sind die einzelnen Kantone in ihren Integrationsbemühungen? Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen privaten Akteuren wie Arbeitgebern, Ärzten und Krankentaggeldversicherern? Diese Fragen stehen im Zentrum unserer neusten Studie «Eingliedern statt ausschliessen: Gute berufliche Integration bei Invalidität lohnt sich», die am Dienstag, 13. April 2021 veröffentlicht wird.