Würden Länder an der Börse gehandelt, wäre die Schweiz eine Value-Aktie: lange etabliert, unspektakulär, stabil. Und über weite Strecken auch ein wenig undynamisch. Helvetia ist in Boomphasen keine Wachstumsweltmeisterin, und die Schweizer fragen sich dann gerne, was sie eigentlich falsch machen. Nach Krisenkaskaden wie jüngst mit Covid, Ukraine-Krieg, Energiepreisexplosion und Inflation fällt es einem dann wieder ein: nicht so viel.

Die Einkommensteuerbelastung ist ziemlich niedrig. Als Faustregel für einen normalverdienenden Haushalt gilt: Ein Monatslohn geht an den Fiskus. Die Mehrwertsteuer beträgt 7,7 Prozent. Die Staats- und Fiskalquoten liegen deutlich unter jenen der Nachbarländer, die Staatsschuldenquote lag Ende 2021 bei 42 Prozent (Österreich: 83, Deutschland: 70, USA: 128 Prozent). Seit Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 hat allein der Bund Staatsschulden im Umfang von etwa 30  Milliarden Franken abgebaut.

Budgetdisziplin

Für die Bewältigung der Covidkrise gab der Staat dann in etwa 30  Milliarden Franken aus – man wäre also wieder auf dem Stand von 2003. Und doch hat das Parlament im letzten Herbst beschlossen, die Covid-Ausgaben seien durch künftige Überschüsse (und nicht etwa durch die vergangenen) zu kompensieren. Die derzeitigen Finanzpläne des Bundes prognostizieren für die kommenden Jahre einen Rückgang der Fiskal- und Staatsquote sogar leicht unter das Vor-Covid-Niveau. Kurz: Die helvetische (Budget-) Disziplin macht ihrem Ruf alle Ehre.

Gleichzeitig lag die Inflation Ende 2022 in der Schweiz bei drei Prozent – was in der Schweiz viele schon alarmiert –, während Österreich und andere europäische Länder mit zehn Prozent zu kämpfen haben. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf beträgt 85’000 Euro.

Die Börsenkapitalisierung schweizerischer Unternehmen summiert sich auf sage und schreibe zwei  Billionen Euro und liegt damit nicht weit hinter den 2,3  Billionen des bevölkerungsmässig neunmal so grossen Deutschland. Österreich kommt nur auf ein Fünfzehntel dieses Werts. Der Franken hat unterdessen Parität zum Euro erreicht; vor fünfzehn  Jahren musste man noch 1,60 Franken für einen Euro zahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zwei Prozent.

Idylle am Vierwaldstättersee. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Schweizer Klischees

Warum ist die Schweiz dermassen erfolgreich? Die Antwort scheint nahe zu liegen: Die Lust am Wettbewerb ist tief in den Schweizer Köpfen verankert, und der Staat will entsprechend schlank gehalten werden. Klingt gut, nicht wahr? Ist aber falsch.

In Wahrheit fristet das Konkurrenzdenken hierzulande nämlich, anders als etwa in den USA, ein stiefmütterliches Dasein: Die Schweizer sind bescheiden und können sich nur ungeschickt verkaufen, gewisse Exemplare wirken zuweilen geradezu tölpelhaft; und Erscheinungen, die weit über den Durchschnitt hinausragen, sind ihnen in der Regel suspekt. Das sieht man bestens daran, dass die Tennis-Ikone Roger Federer ausserhalb der Schweiz oftmals stärker verehrt wurde als zu Hause.

Auch ein paar andere Klischees, die gerne gepflegt werden, haben mit der Realität wenig zu tun: Die auf dem Papier niedrige Fiskalquote zum Beispiel ist Augenwischerei. Addiert man die (obligatorischen) Krankenkassenprämien und den obligatorischen Teil der Beiträge zur beruflichen Vorsorge (zweite Säule der Altersvorsorge) zu den Fiskaleinnahmen, so erhöht sich die Quote auf 40  Prozent, womit die Schweiz nur knapp hinter Österreich und sogar noch vor Deutschland liegt.

In den deutschsprachigen Nachbarländern zählen diese Posten von Haus aus zum Sektor Staat, in der Schweiz gehen die Zahlungen an private Institutionen und tauchen deshalb nicht in der Statistik auf. Sie sind aber sowohl verpflichtend als auch staatlich exakt geregelt und in­sofern einer staatlichen Zwangsabgabe gleichzustellen.

Bedingte Grundsicherung

Die Schweiz ist beileibe auch kein herzloses Land, in dem es nur Starken und Reichen gutgeht. So wird Bildung ebenso wie in Österreich bis hoch in die Tertiärstufe weitestgehend gratis angeboten und liegt in Händen des Staates. Die Semestergebühr an den Schweizer Universitäten beträgt etwa 700 Franken. Privatschulen sind ein Randphänomen.

Die Schweiz hat eines der dichtesten öffentlichen Verkehrsnetze, und nur die Hälfte der Betriebskosten (ganz zu schweigen von den Investitionen) wird durch Ticketpreise gedeckt, den Rest finanziert das Kollektiv. Alle Bürger haben Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung. Das Netz der sozialen Sicherung ist dicht. Niemand muss hier auf der Strasse landen.

Die Schweiz hat – mit der Sozialhilfe – sozusagen ein Grundeinkommen, das die finanzielle Existenz garantiert. Nur ist dieses nicht bedingungslos, sondern an die Auflage geknüpft, dass arbeiten soll, wer arbeiten kann. Auch das Wohnen wird nicht den Marktkräften überlassen, sondern ist über die Anbindung von Mieten an die Kosten stark reguliert.

Von allen europäischen Ländern hat die Schweiz mit 29  Prozent die höchste Quote staatlich administrierter Preise. Zählt man die Mieten, diverse Nahrungsmittel (die durch den schweizerischen Agrarprotektionismus vor ausländischem Wettbewerb geschützt sind) und Treibstoffe, Brennstoffe sowie Tabakprodukte (die über Steuern preislich reguliert werden) hinzu, steigt die Quote sogar auf 55 Prozent.

Die Schweiz belegt zwar Spitzen­plätze in globalen Indizes, die Wettbewerbsfähigkeit vergleichen; bei Rankings hingegen, in denen es um die Regulierungsdichte geht, schneidet sie erstaunlich schlecht ab. Wenn es also nicht das Vertrauen in die Marktkräfte ist, das der Schweiz ihren Wohlstand beschert: Was ist es dann?

In der Schweiz zählen die Gemeinden

Es ist – das mag jetzt widersinnig klingen – eine Skepsis gegenüber grossen Würfen, der ausgeprägte Glaube an Bottom-up-Prozesse. Die Schweiz ist extrem föderalistisch und dezentral aufgebaut: neun Millionen Einwohner, 26  Kantone, 2136  Gemeinden. Die Einnahmen des Bundes beliefen sich 2020 auf 75  Milliarden Franken, jene der Kantone lagen mit 97  Milliarden Franken deutlich höher, die Einnahmen der Gemeinden lagen bei 50  Milliarden Franken. Die Kantone und Gemeinden finanzieren einen Grossteil ihrer Ausgaben mit eigenen Steuereinnahmen, über die sie zudem auch Gestaltungshoheit besitzen.

Man könnte den kleinteiligen schweizerischen Föderalismus als ineffizient bezeichnen. Das ist er statisch gesehen vielleicht auch. Der Koordinationsbedarf ist hoch, die Effizienzverluste sind real. Teilweise mangelt es an Kompetenzen. Gerade auf Kantons- und noch mehr auf Gemeindeebene fehlen oft fähige Personen, weil das Milizsystem immer mehr Mühe hat, Leute zu finden, die diese Ämter bekleiden wollen.

Andererseits sind es eben genau dieser gelebte Föderalismus und der Milizgedanke, die zum (verhältnismässig) schlanken schweizerischen Staat mit seinen wettbewerbsfreundlichen und damit wohlstandsfördernden Rahmenbedingungen führen. Denn sie schaffen eine Unmittelbarkeit von Einnahmen, Ausgaben und Aufgabenerfüllung, die zu einem verantwortlichen und zielgerichteten Umgang mit öffentlichen Geldern führt.

Das gemeinsame Ganze

Das schärft in der Bevölkerung das Verständnis dafür, dass Geld nicht einfach wie Manna vom Himmel fällt oder von der Nationalbank beliebig gedruckt wird. Nein, es handelt sich tatsächlich um ihr Geld, das für etwas ausgegeben wird – und nur vorhanden ist, wenn der Standort attraktive Rahmenbedingungen für Unternehmen, zum Leben und zum Arbeiten bietet.

Wie stark sich jede Schweizerin und jeder Schweizer als Teil des gemeinsamen Ganzen empfindet, zeigt sich bestens im Abstimmungsverhalten, das im Ausland immer wieder für Verblüffung sorgt. Volksinitiative für sechs Wochen Ferien für alle: abgelehnt (66  Prozent Nein). Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen von 2500  Franken monatlich für alle: abgelehnt (77  Prozent Nein). Sogar eine Steuer von 20  Prozent auf Erbschaften über zwei Millionen Franken wurde mit 71 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.

Seit dem Jahr 2000 waren von 75 wirtschaftsrelevanten Volksinitiativen alle bis auf zwei wirtschaftsfeindlich (definiert als: abgelehnt von Wirtschaftsverbänden und der liberalen Partei FDP). Allerdings hat das Stimmvolk nur sieben davon angenommen; 66 Initiativen hat es abgelehnt und damit einen wirtschaftsfreundlichen Kurs direktdemokratisch legitimiert.

Pragmatismus

Auch die Covidkrise hat die Schweiz mit weniger Freiheitseinschränkungen und geringeren Kosten für die öffentliche Hand als ihre Nachbarländer bewältigt. Da war der Vorwurf, hier würden Menschenleben auf dem Altar der Wirtschaft geopfert, natürlich nicht weit. Regierungen restriktiverer Länder mussten allein schon zur Verteidigung ihrer eigenen Covidpolitik die Schweiz anprangern. Die Politik stelle Marktinteressen über Menschenleben, hiess es.

Entsprechend hämisch waren die Schlagzeilen, als die Schweiz im November 2020 tatsächlich mit einer grossen Infektionswelle zu kämpfen hatte. Die Bilanz nach drei Covidjahren gibt dieser Linie allerdings recht: Die Schweiz weist eine geringere Übersterblichkeit als Österreich und Deutschland auf.

Dabei lässt sich nicht einmal behaupten, dass die Schweizer Beamten und Politiker im Umgang mit Sars-CoV-2 sonderlich fähig gewesen wären. Es gab kommunikative Fehlleistungen, und Corona legte diverse Schwachstellen in Verwaltung und Politik offen. Aber in einer Pandemie, in der sich ohnehin alle Experten mindestens zweimal irrten, half das pragmatische ­Bottom-up-Vorgehen dabei, einigermassen erfolgreich zu navigieren – auch wenn der Schweizer Regierung oftmals Konzeptlosigkeit und Führungsschwäche vorgeworfen wurden.

Bottom-up wirkt

Es ist diese historisch oft gemachte Erfahrung, dass Bottom-up funktioniert und man keinen grossen, allwissenden Staat braucht, der jeden leitet, schützt und einschränkt. Was die Schweiz so erfolgreich macht, ist die Erkenntnis, dass man Probleme pragmatisch angehen kann, wenn sie auftauchen, und auch nur dort, wo sie auftauchen. Müsste man dafür einen Slogan suchen, würde sich «Kleiner Zentralstaat, starker Staat» anbieten. Aber wie bereits erwähnt: Im Marketing sind wir nicht so gut.

Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift «Pragmaticus» erschienen.