Schon im Vorfeld war das Interesse der Förderer von Avenir Suisse am diesjährigen Annual Dinner gross. Zum einen, weil sich mit Bundesrat Ignazio Cassis hoher Besuch angemeldet hatte, zum andern, weil den Anwesenden das druckfrische  «Weissbuch Schweiz: Sechs Skizzen der Zukunft» vorgestellt werden sollte.

Forderung nach dem Zukunftsdiskurs

Die Lokalität, das neue Bürogebäude «Swiss Re Next», passe besonders gut zum abendlichen Thema und sei quasi eine «retour aux origines», erklärte Swiss-Re-Präsident Walter Kielholz bei der Begrüssung des hochkarätigen Publikums: In den Büros am Zürcher Mythenquai hatten 1998, noch unter dem Eindruck der jahrelangen wirtschaftlichen Schwäche, die Gespräche über die Gründung von Avenir Suisse stattgefunden. Nach damaliger Ansicht der Initianten bedurfte die Schweiz dringend einer Institution, die den längerfristigen Blick in die Zukunft pflegt.

Stiftungsratspräsident Andreas Schmid und Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder begründeten in ihren Reden, warum die Schweiz von heute reif ist für das «Weissbuch Schweiz»: Die ungesunde Kombination aus innerem Reformstillstand (z.B. die ungelösten Probleme bei der Altersvorsorge und der Unternehmensbesteuerung) und instabilen globalen Rahmenbedingungen sei zunehmend eine Gefahr für den Wohlstand, und eine offene und ehrliche Debatte über die Chancen und die Risiken der weiteren Entwicklung überfällig. Der stolze Blick auf die Errungenschaften genüge nicht mehr, um den Wohlstand für die Zukunft zu sichern, sondern es brauche den unvoreingenommenen Blick nach vorne.

Chefökonom Patrik Schellenbauer und Weissbuch-Co-Autorin Jennifer Langenegger untermauerten diese Argumente mit Daten: Das Wirtschaftswachstum der Schweiz konnte in den letzten Jahren nur durch einen höheren Arbeitseinsatz gehalten werden, während die Produktivität gegenüber den Nachbarländern kontinuierlich zurückfiel. Hinzu kommt, dass im Verhältnis der Exportnation Schweiz zu ihrem Haupthandelspartner, der Europäischen Union, viele Fragen ungeklärt bleiben. Auch Patrik Schellenbauer wünscht sich angesichts dieser strukturellen Depression, in der das Land steckt, einen offeneren Zukunftsdiskurs als bisher. Bewusst habe die Denkfabrik in ihrer neuen Publikation statt einer einzigen sechs mögliche Skizzen der Zukunft erarbeitet. Es gehe ihr nicht darum, der Schweiz «den richtigen Weg» vorzugeben, sondern sie wolle vielmehr in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Gestaltbarkeit der Zukunft sowie die Grundlagen unseres Wohlstands schärfen.

Das vorrangige Ziel des Bundesrats

Bundesrat Cassis unterstrich in seinem Eingangsstatement die entscheidende Rolle der Bevölkerung: Glücklicher­weise würde in der Schweiz der Weg nicht von einem König oder einem Präsidenten gewählt. Die kollektive Ablehnung jeglicher Machtkonzentration, die auf den drei Säulen direkte Demokratie, Föderalismus und Milizsystem aufbaue, sei das Erfolgsrezept der Schweiz, das es unbedingt zu bewahren gelte.

Gleichwohl liess Cassis keinen Zweifel daran, dass die Regelung der Beziehungen mit der EU zu den Prioritäten des Bundesrats gehöre, und zwar unter der Prämisse «bestmögliche wirtschaftliche Integration bei grösstmöglicher Souveränität». Er erinnerte daran, dass die Schweiz pro Tag mit der EU Waren und Dienstleistungen im Wert von 1 Mrd. Fr. tauscht. Dieser Umfang könne durch den Abschluss von Freihandelsabkommen mit Drittstaaten allenfalls erweitert, aber keinesfalls ersetzt werden. Es brauche das Rahmenabkommen mit der EU aus vielen Gründen: um der laufenden Erosion der bestehenden Bilateralen ein Ende zu setzen, um den Handelspartnern mehr Rechtssicherheit zu gewährleisten, und um den Schweizer Unternehmen den Marktzugang zum EU-Binnenmarkt in der langen Frist zu garantieren. Cassis zeigte sich zuversichtlich, dass eine Einigung noch bis zum Herbst im Bereich des Möglichen liege, erwähnte aber auch die «roten Linien» des Gesamtbundesrats für die Verhandlungen, wie etwa den Fortbestand der 8-Tage-Regel und generell die flankierenden Massnahmen.

Faktenbasierte Kommunikation und politisches Engagement gefragt

In der anschliessenden Diskussion mit dem Publikum ermahnte der Bundesrat die Anwesenden, dass Stimmbürger an der Urne vor allem mit dem Bauch entscheiden. Für die politische Diskussion bedeute dies: Fakten sind eine erste, wichtige Grundlage, aber sie werden nicht genügen. Es müssten auch die Stimmen jener, die sich für eine offene Schweiz einsetzen und in ihr eine Zukunft sehen, gehört werden. Es liege also auch viel Verantwortung bei den Bürgerinnen und Bürgern.

Wie die Zukunftsdiskussion der Schweiz aussehen könnte, hat alt Bundesrat Kaspar Villiger anhand von fünf Kernfragen in seinem im «Weissbuch Schweiz» enthaltenen Epilog formuliert:

  1. Wie viel Öffnung gegenüber der Globalisierung brauchen wir, oder umgekehrt, wie viel Abschottung von der Globalisierung können und wollen wir uns leisten?
  2. Wie viel Umverteilung brauchen und ertragen wir?
  3. Wo setzen wir die Grenze zwischen Eigenverantwortung und Betreuung oder zwischen Freiheit und Regulierung?
  4. Was bedeutet Souveränität heute und wie viel davon benötigen wir?
  5. Wie viel Zuwanderung brauchen wir und wie viel davon ertragen wir?

Es ist die Hoffnung des Autorenteams von Avenir Suisse, mit dem «Weissbuch Schweiz» einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen zu leisten.