In der Ballade «Wovon lebt der Mensch?» der Dreigroschenoper lässt Bertolt Brecht Mackie Messer singen: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral». Wer hungert, wird sich kaum um moralische Fragen kümmern wollen. Nun ist die Schweiz zum Glück vermögend, keiner hungert. Dennoch ist in den Köpfen die Angst nicht verschwunden, zu wenig zu essen zu haben, wie das Abstimmungsresultat zur Ernährungssicherheit kürzlich gezeigt hat. Sind wir damit – um bei Brecht zu bleiben – immer noch im Stadium der Angst um das «Fressen» oder bereits der «Moral» verpflichtet?

Familienbetriebe, Nachhaltigkeit

Der Schweizer Bauernverband (SBV) positioniert sich in dieser Beziehung uneindeutig. Einerseits war er indirekter Urheber des neuen Verfassungsartikels über die Ernährungssicherheit («Fressen»), andererseits interpretiert er die hohe Zustimmungsrate in seiner Medienmitteilung als einen «[…] klaren Auftrag, […] die Weichen so zu stellen, dass nachhaltig produzierende Familienbetriebe ausreichend Einkommen erzielen können. Das heisst Grenzschutz erhalten, Nachhaltigkeitskriterien für Importe einführen […]».

Familienbetriebe, Nachhaltigkeit: Diese Stichworte sprechen eher für das Stadium der «Moral». Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass auch bäuerliche Familienbetriebe – wie andere Gewerbetreibende – nachhaltig produzieren und ein anständiges Einkommen erwirtschaften sollen. Aber das soll unter marktwirtschaftlichen Regeln geschehen. Anders sieht dies der SBV: Die heutige, stark protektionistische, marktverzerrende und gelenkte Subventionswirtschaft für die Produktion von Lebensmitteln müsse nach dem jüngsten Volksentscheid nicht nur beibehalten, sondern vereinzelt gar ausgebaut werden.

Zuerst das Fressen – oder doch lieber die Moral? Von einer Reform der Agrarpolitik würden Einkommensschwächere besonders profitieren. Plakat zur «Dreigroschenoper». (vug)

Geringe relative Ausgaben

Eine beliebte, moralisch gefärbte Begründung des SBV lautet, dass Schweizerinnen und Schweizer – trotz des international unvergleichlich hohen Grenzschutzes – heute nur noch einen geringen Teil ihres Einkommens für Nahrungsmittel verwenden. In Äthiopien geben Einwohner 58% ihres Haushaltseinkommens für Lebensmittel aus (Weltbank), im Durchschnitt der EU sind es 12,5% (OECD), in der Schweiz 6,4% (HABE, BFS). Der prozentuale Anteil ist in der Schweiz damit tatsächlich geringer als in manch anderen Ländern, wird aber trotzdem unterschätzt: Denn auch über die Steuern fliesst ein Teil der Haushaltseinkommen in die Landwirtschaft (Stichwort: Direktzahlungen) – so viel wie in kaum einem anderen OECD-Land.

Zeigt der internationale Vergleich im Umkehrschluss nun, dass sich Äthiopien moralischer verhält als die Schweiz, weil es den bäuerlichen Familienbetrieben mehr Einkommen zugesteht? Wahrscheinlich nicht, denn trotz den hohen Haushaltsausgaben für Lebensmittel dürfte es den äthiopischen Bauern im Durchschnitt eher schlechter gehen als ihren Schweizer Berufsgenossen. Denn die relative Betrachtung verschleiert das absolute Ausmass.

Höchste absolute Kosten

Gemäss Zahlen der Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) gaben sämtliche Schweizer Haushalte zwischen 2012 und 2014 im Monatsdurchschnitt 642 Fr. für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aus. Umgerechnet in Schweizer Franken und über die gleiche Zeitperiode bezahlten gemäss den OECD Statistiken die Franzosen 565 Fr., die Österreicher 483 Fr. und die Deutschen gar nur 389 Fr. monatlich für ihren Nahrungsmittelkonsum. Im Vergleich mit den EU-28 gaben Konsumenten in der Schweiz zwischen 2012 und 2014 für Essen durchschnittlich 55% mehr aus (vgl. auch BFS). 

Diese Situation hat sich weiter verschärft: Insbesondere aufgrund der Aufhebung des Mindestkurses lag die Preisdifferenz 2015 kaufkraftbereinigt gar 78% über dem EU-28-Durchschnitt (BFS). Es sind vor allem die einkommensschwächeren Haushalte der Schweiz (Einkommen < 5021 Fr. pro Monat), die überdurchschnittlich stark unter der Landwirtschaftspolitik leiden. Sie gaben mit 12,2% beinahe doppelt so viel ihres Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel aus als der Schweizer Durchschnitt (HABE, BFS). Dass Schweizer Nahrungsmittelpreise von vielen Konsumenten als zu hoch empfunden werden, lässt sich auch mit Zahlen zum Einkaufstourismus belegen: Gemäss einer Hochrechnung der Universität St. Gallen kaufen Konsumentinnen und Konsumenten aus der Schweiz immer mehr Lebensmittel im grenznahen Ausland ein – 2015 im Umfang von rund 2,8 Mrd. Fr (siehe Faktenblatt Nr. 7 zur Ernährungssicherheit des Bundesamts für Landwirtschaft).

Welcher «moralische» Imperativ?

Von einer grundlegenden Reform der Agrarpolitik, beispielsweise durch die Einführung von Freihandel mit der EU, würden also insbesondere Einkommensschwächere profitieren. Denn die Schweiz hat einen der weltweit am stärksten abgeschotteten Märkte: Mehr als 2450 landwirtschaftliche Tariflinien legen minuziös fest, was zu welchem Preis wann importiert werden darf (vgl. Faktenblatt Nr. 9 zur Ernährungssicherheit des BLW). Dies wirkt preistreibend.

Wer wie der SBV in der politischen Diskussion oft mit den relativen Ausgaben für Nahrungsmittel argumentiert, impliziert damit indirekt, dass ein bestimmter Prozentsatz des Haushaltseinkommens der Agrarindustrie zusteht. Dies ist keine «moralische» Sichtweise, sondern harte Interessenpolitik. Wäre es nicht «moralischer», auf beiden Seiten der Nahrungsmittelkette die Souveränität zu steigern? Erstens bei den Konsumenten durch das Abschliessen von Freihandelsabkommen auch für Agrargüter. Zweitens bei den Produzenten durch den Abbau des heutigen Subventionssystems, das eine Vielzahl der administrativen Vorschriften obsolet machen würde.

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