Ein verschriebenes Medikament wird erst von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung rückerstattet, wenn es vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf die Spezialitätenliste (SL) aufgenommen worden ist. Davor muss es Swissmedic auf dem Schweizer Markt zugelassen haben, und Pharmahersteller und BAG müssen sich auf einen Preis geeinigt haben. Dieser Prozess kann jedoch bei innovativen Medikamenten, für die Vergleiche mit bestehenden Produkten schwierig sind, Monate dauern. Bei Behandlungen von bislang unheilbaren Krankheiten ist diese Wartezeit problematisch.
Ungleicher Zugang zu lebensrettenden Behandlungen
Um den Zugang zu Innovationen in der Übergangsphase zu ermöglichen, sieht die Verordnung über die Krankenversicherung (Art. 71a-d KVV) eine ausserordentliche Kostenübernahme vor. Diese ist jedoch an Bedingungen geknüpft:
- Es wird ein hoher therapeutischer Nutzen aus der Anwendung des Arzneimittels erwartet,
- das Arzneimittel dient der Behandlung einer Krankheit, die für den Versicherten tödlich verlaufen oder ihm schwere und chronische Gesundheitsprobleme bereiten könnte, und
- es gibt keine in der Schweiz zugelassene und genehmigte therapeutische Alternative.
In den genannten Fällen kann bei der Krankenversicherung des Patienten ausnahmsweise eine Vergütung beantragt werden. Der Versicherer entscheidet, ob der Patient und die geplante medikamentöse Behandlung die Voraussetzungen der Verordnung erfüllen. Ist dies der Fall, muss der Versicherer die Kosten für die Behandlung dieses Patienten übernehmen, und zwar zu einem Preis, der direkt mit dem Pharmaunternehmen ausgehandelt wird.
Die Zweckmässigkeit von Art. 71a-d KVV ist im Gesundheitssektor unbestritten: Es ist eine pragmatische Lösung, um die Patienten innert kurzer Zeit von lebensrettenden Medikamenten profitieren zu lassen. Die Einzelprüfung ist jedoch nicht unproblematisch. Die Anträge können von den einzelnen Versicherern und Vertrauensärzten unterschiedlich beurteilt werden, was im selben Fall zu widersprüchlichen Entscheiden führen könnte. Die Gleichbehandlung in einem System der ausnahmsweisen Vergütung ist schwerer sicherzustellen, als wenn ein Medikament eindeutig auf der SL geführt ist.
Eine Ausnahme wird zur Regel
Problematisch ist auch die zunehmende Häufigkeit von Einzelvergütungsanträgen. Während zwischen 2011 und 2013 im Jahresdurschnitt ca. 7000 Gesuche nach den Art. 71a-d KVV gestellt wurden, waren es im Jahr 2019 schon ca. 38 000. Gemäss Hochrechnungen waren es 2021 bereits mehr als 45 000 Gesuche. Verteilt auf 260 Arbeitstage, an denen die Versicherungsexperten die Gesuche prüfen, entspräche dies einer Kadenz von einem Entscheid alle drei Minuten.
Nicht alle Entscheide betreffen Medikamente, für die noch Preisverhandlungen laufen. Eine grosse Mehrheit betrifft Anträge für den sogenannten «Off-label use», also Indikationen ausserhalb der zugelassenen Behandlungen. Zudem gibt es immer wieder (oft kleinere) Firmen, die keinen Sitz bzw. keine Vertriebsorganisation in der Schweiz haben und deshalb auf eine Aufnahme ihrer Medikamente in die SL verzichten. Die allgemeine Zunahme der Anzahl Gesuche belegt jedoch, dass der Standardprozess über die SL ins Stocken geraten ist.
Quantität und Qualität verbessern
Zurzeit werden Massnahmen zwischen BAG und Krankenkassen diskutiert, die eine Homogenisierung der Bewertung unter den Versicherern über den therapeutischen Nutzen anstreben und dem Grundsatz der Gleichbehandlung besser gerecht werden. Dies kann die Qualität der Entscheide vereinheitlichen, nicht aber die Anzahl der Gesuche reduzieren.
Dafür bräuchte es eine Vereinfachung und Beschleunigung des Aufnahmeprozesses innovativer Medikamente auf die SL. Ein schneller Zugang könnte ferner auch die Hürden für den Antrag einer Indikationserweiterung senken. Damit würde die Zahl der «Off-label use»-Gesuche reduziert. Diese Vereinfachung und Beschleunigung dürfte das System entlasten und dem Ausnahmecharakter von Artikel 71a-d wieder mehr Geltung verschaffen.
Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift «Medinside» erschienen.