Zuerst die gute Nachricht: Wir leben länger, und länger bei guter Gesundheit. Gleichzeitig, als Folge des Wohlstands, bekommen Frauen weniger Kinder. Die durchschnittlichen Geburtenraten liegen bei 1,4 und 1,5 Kind pro Frau in Deutschland bzw. in der Schweiz. In Frankreich liegt sie höher bei 2,0. In allen drei Ländern reicht sie jedoch nicht aus, um eine konstante Bevölkerungsgrösse zu sichern. Ein längeres Leben bei tieferer Geburtenrate führt zu einer Alterung der Gesellschaft. Konnte man früher von einem breiten Familienstammbaum sprechen, so gleichen die heutigen Generationenstrukturen eher einem Bambusstock. Dies hat weitreichende Konsequenzen für den Generationenvertrag sowohl im «Kleinen», in der Familie, als auch im «Grossen», sprich bei der staatlichen sozialen Sicherheit.
Zuerst führt ein längeres Leben zu neuen Krankheitsbildern. Dank dem medizinischen Fortschritt überleben mehr Menschen Herzinfarkte und Krebserkrankungen. Dafür leiden sie zunehmend unter chronischen Beschwerden (z.B. Alzheimer). Ehepartner und Verwandte sind bei der Pflege solcher Fälle besonders gefordert und kommen oft an ihre eigenen Grenzen. Die Alterung der Gesellschaft beeinträchtigt diese Form des Generationenvertrags, weil die Betreuungsaufgabe auf den Schultern von immer weniger Freiwilligen lastet (siehe Abbildung).
Können Ehepartner und Kinder desweitern ihren betagten Angehörigen nicht mehr helfen, müssen diese durch Fachpersonen, ambulant oder stationär, gepflegt werden. Auch hier fordert die Alterung ihren Tribut, weil der Topf potentieller Fachkräfte kleiner wird. In der Schweiz wird sich bis 2030 das Verhältnis der aktiven Bevölkerung zu den Hochaltrigen halbieren, bis 2050 sogar dritteln. Die Situation in Deutschland und Frankreich wird sich ähnlich entwickeln.
Zuletzt gefährdet die Alterung der Gesellschaft die Finanzierung der Altersvorsorge besonders dann, wenn diese im Umlageverfahren organisiert ist. Nach diesem Prinzip zahlen die Erwerbstätigen via Lohnbeiträge die laufenden Renten der heutigen Rentner. Etwa 73% der Altersrenten in Frankreich, 70% in Deutschland und 43% in der Schweiz, werden auf diese Weise finanziert. Mehr Rentner, die länger leben, werden durch weniger Erwerbstätige finanziell unterstützt. Mehr Saft wird aus immer kleineren Zitronen gepresst.
Unsere Gesellschaft ist gefordert. Deshalb sollte erstens die Eigenverantwortung gefördert werden: altersgerechtes Wohnen und private Vorsorge – finanziell wie gesundheitlich – reduzieren die Abhängigkeit gegenüber künftigen Generationen. Ist die Hilfe Dritter unvermeidbar, sollte zweitens der Kreis der «engeren» Familie ausgeweitet werden. Eine enge Zusammenarbeit mit ambulanten Dienstleistern, Alters-Wohngemeinschaft sowie Zeitbörsen sind Möglichkeiten, um private Ressourcen neu oder effizienter zu mobilisieren. Drittens ist ein zielgerichteter Umgang mit staatlichen Mitteln erforderlich. Zum Beispiel sollte eine subjektorientierte Finanzierung, d.h. die finanzielle Unterstützung der Nutzniesser statt einzelner Institutionen, sicherstellen, dass Pflege- und Betreuungsleistungen die Nachfrage effizienter befriedigen. Diese drei Elemente sind wichtige Bausteine eines nachhaltigen Generationenvertrags: nur damit kann die Bambusstruktur unserer Gesellschaft dem Druck der Alterung flexibel widerstehen, ohne gleich zu brechen.
Dieser Artikel erschien erstmals im «Metrobasel Report 2013» unter dem Titel «Vom breiten Stammbaum zum rüstigen Bambusstock».