Neue Luzerner Zeitung: Jérôme Cosandey, bescheren die nächsten Jahre der AHV Defizite, ehe die Rentenreform zu greifen beginnt?

Jérôme Cosandey: Das ist anzunehmen, ja. Jedes Jahr gehen jetzt geburtenstarke Jahrgänge in Pension, die Babyboomer-Lawine rollt bereits. Für die AHV bleibt es natürlich nicht folgenlos, wenn die Zahl der Rentner schneller wächst als die Zahl der Beitragszahler. Dank den Kapitalerträgen von 1,7 Milliarden Franken aus dem AHV-Fonds schrieb sie zwar im vergangenen Jahr noch keine roten Zahlen. Doch auf die Finanzmärkte ist auf die Dauer kein Verlass, und betrachtet man allein die Ein- und Auszahlungen im Umlageverfahren, so fehlten bereits im vergangenen Jahr 320 Millionen Franken. Das ist zehnmal mehr als erwartet.

300 Millionen sind aber auf gut 41 Milliarden Franken nach über zehn Jahren mit schwarzen Zahlen noch kein Grund, Alarm zu schlagen.

Zuerst einmal: Das sich abzeichnende Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben kommt nicht überraschend. Wir kennen die demografische Entwicklung nicht erst seit gestern. Bei den 320 Millionen handelt es sich indes nicht um eine Bagatelle, und dieser Betrag wird jährlich zunehmen. Würde nichts geschehen, summierte er sich 2030 auf rund 8,2 Milliarden Franken. Das ist fast doppelt so hoch wie das heutige Armeebudget. Kommt hinzu: Wenn die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben des Fonds nicht geschlossen wird, schmilzt als Folge das Kapitalpolster und mit ihm die Erträge daraus.

Der Bundesrat hat vor, ab 2020 mit zusätzlichen, bis zu 1,5 Prozent höheren Mehrwertsteuern die AHV langfristig zu finanzieren. Das Rentenniveau wird dabei nicht angetastet.

Er kann drei Hebel in Bewegung setzen, um die Sozialeinrichtung in eine finanziell sichere Zukunft zu führen: mehr einnehmen, weniger ausgeben oder länger arbeiten lassen. Mit der Mehrwertsteuer hat der Bundesrat das richtige Mittel für Mehreinnahmen gewählt. Alle, Jung und Alt, zahlen über ihre Konsumausgaben mit, wie es sich für eine solidarische Einrichtung gehört. Mit höheren Lohnabgaben würde die wichtige Exportwirtschaft unter noch stärkeren Druck geraten, als sie mit dem starken Franken heute schon ist.

Und ein höheres Rentenalter?

Das gleiche Rentenalter für Frauen und Männer ist ein Schritt in die richtige Richtung. Meiner Ansicht nach wäre es sinnvoll, das Rentenalter weiter anzuheben. Über die Hälfte der OECD-Länder kennen das Rentenalter 67 oder höher bereits oder sind daran, es einzuführen. In all diesen Ländern ist die Lebenserwartung tiefer als in der Schweiz.

Deren Regierungen mussten ihre Reformen auch nicht durch eine Volksabstimmung schleusen.

Wir leben länger, also dürfen wir auch etwas länger arbeiten, damit die Rentenrechnung aufgeht. Die Akzeptanz einer solchen Massnahme wäre höher, wenn die Erhöhung sanft in monatlichen Schritten umgesetzt würde. Die Leute, die bereits kurz vor der Pensionierung stehen, müssten minim länger arbeiten. Den Jungen ist ohnehin heute schon bewusst, dass sie nicht mit 65 in Rente gehen können.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Luzerner Zeitung vom 14. April 2015.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Luzerner Zeitung.