Bei der Reform der Altersvorsorge 2020 (AV 2020) standen primär Aspekte der Finanzierung im Vordergrund. Wie kann man trotz Alterung der Gesellschaft die AHV sichern, ja sogar ausbauen? Wie kann man trotz längerer Lebenserwartung und tiefer Kapitalmarktrenditen die Renten der beruflichen Vorsorge garantieren?

Diese Fragen sind wichtig und dringend, will man eine Verschuldungsspirale in der AHV und die systemwidrigen Umverteilungen zwischen Jung und Alt in der beruflichen Vorsorge vermeiden. Doch mit diesem engen Fokus auf die Finanzen der Sozialwerke verliert man den Gesamtblick auf tiefgreifende soziale und gesellschaftliche Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Die Lebensläufe der Menschen sind unberechenbarer und vielfältiger geworden; insbesondere die Rollen von Frauen und Männern in der Familie und im Erwerbsleben haben sich verändert. Im Vorsorgesystem allerdings schlägt sich das kaum nieder. Daraus entstehen Ungleichbehandlungen, die sich immer weniger rechtfertigen lassen.

Ein Weltbild aus den 1970er-Jahren

Das Volk segnete das Dreisäulenkonzept 1972 an der Urne ab. 1983 verabschiedete das Parlament das Gesetz für eine obligatorische berufliche Vorsorge (BVG). Das Weltbild von damals prägt nach wie vor die Gesetzgebung der Schweizer Altersvorsorge.

Ende der 1970er Jahre war die Ehe, bis zum Tod eines Ehegatten, das dominierende gesellschaftliche Modell. Die Scheidungsrate betrug noch knapp 25%, während heute zwei von fünf Ehen auseinandergehen. Dadurch ergeben sich viele alleinerziehende Eltern oder Patchwork-Familien. Mit der Ehe war früher auch die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau klar. Spätestens bei der Geburt des ersten Kindes zog sich die Frau aus dem Erwerbsleben zurück – man zahlte ihr sogar ihre Freizügigkeitsleistung aus der zweiten Säule aus – und widmete sich ganz dem Nachwuchs und dem Haushalt. Der Mann konzentrierte sich auf die bezahlte Arbeit und strengte sich an, um den Einkommensverlust der Ehefrau zu kompensieren.

Die Witwenleistungen der AHV spiegeln nach wie vor dieses Bild. Sie sollen den Einkommensausfall beim Tod des Ehemanns kompensieren – unabhängig davon, ob die Witwe Kinder im schulpflichtigen Alter hat oder nicht. Für Männer ist der Zugang zu Witwerleistungen viel selektiver geregelt. Entsprechend wurden 98% der Witwen- und Witwerrenten im Jahr 2011 an Frauen ausbezahlt. Der Schutz des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin, zum Beispiel in Patchwork-Familien, ist durch die AHV nicht gesichert.

In der 2. Säule ist eine solche Versicherung grundsätzlich auch nicht vorgesehen, selbst wenn immer mehr Pensionskassen Witwenleistungen für Lebenspartner anbieten. Eingetragene Partnerschaften sind im Sozialversicherungsrecht immerhin seit 2004 einer Ehe gleichgestellt. Umgekehrt erhalten nichtverheiratete Paare bei der Pensionierung zwei volle einzelne AHV-Renten, während die Pension von Ehepaaren auf maximal 150% einer Einzelrente plafoniert ist. Die Altersvorsorge sollte künftig unabhängig vom Ehestatus und von der Rollenverteilung gestaltet werden.

Teilzeitarbeit wird zur Regel

Natürlich ist das traditionelle Rollenmodell zwischen Ehegatten nach wie vor anzutreffen. Immer öfter jedoch bleiben die Mütter erwerbstätig, wenn auch meistens im Teilzeitpensum. Bei Männern nimmt die Teilzeitarbeit ebenfalls zu. Zudem steigt die Anzahl Personen, die zwar insgesamt 100% arbeiten, jedoch Teilzeitstellen bei mehreren Arbeitgebern kumulieren. 2016 waren dies über 340’000 Personen, doppelt so viele wie noch 20 Jahre zuvor (vgl. Grafik). Teilzeitarbeit wird heute jedoch in der beruflichen Vorsorge bestraft, weil nur der Lohn oberhalb des sogenannten Koordinationsabzugs von 24’675 Fr. pro Jahr der BVG-Pflicht unterstellt ist – und zwar unabhängig vom Beschäftigungsgrad.

Der Koordinationsabzug wurde bei der Einführung des BVG geschaffen, um eine Überversicherung von Mitarbeitern mit kleinen Einkommen zu vermeiden, weil die AHV für sie bereits einen hohen Anteil des Lohns ersetzt. Für Arbeitnehmer mit höheren Einkommen und 100%-Anstellungsgrad spielte diese Regelung kaum eine Rolle. Doch heute, wo die Schweiz 1,7 Mio. Teilzeitangestellte zählt (verglichen mit 1,0 Mio. 1986), fällt diese Regelung ins Gewicht. Wer Teilzeit arbeitet oder ein volles Pensum auf mehrere Arbeitgeber verteilt, kumuliert weniger Sparkapital in der beruflichen Vorsorge. Die finanzielle Sicherheit im Alter wird dadurch tangiert. Darum würde man heute diesen Koordinationsabzug meiden, könnte man das Vorsorgesystem von Grund auf neu aufgleisen. So weit ging das Parlament im Rahmen der Reform AV 2020 allerdings nicht, sondern sah nur eine Reduktion des Koordinationsabzugs bis auf 14’100 Fr. vor, je nach Einkommen.

Durchlässige Anstellungsverhältnisse

Weitere offene Fragen bringt die grundsätzliche Pluralisierung des Arbeitslebens mit sich. Mit der Globalisierung und dem Wunsch nach mehr Flexibilität sowohl seitens der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer nimmt die Bedeutung der selbständigen Arbeit im Mandatsverhältnis zu. Immer mehr Leute werden Teilzeit angestellt sein und daneben als Freelancer einem Nebenerwerb nachgehen, zum Beispiel als technischer Berater, Projektmitarbeiter oder Uber-Fahrer.

Selbständig Erwerbende sind allerdings bislang von der BVG-Pflicht befreit. Dahinter steckte in den 1980er Jahren die Vorstellung, dass Unternehmer in ihre Firma Kapital für Maschinen und Gebäude investieren, die sie bei der Pensionierung wieder verkaufen und den Erlös für die Vorsorge einsetzen können. Doch mit der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors entspricht das Vermögen einer Firma immer mehr ihrem «Humankapital». Das lässt sich schlecht veräussern – insbesondere wenn ein Unternehmen vor allem aus dem Inhaber und wenigen Mitarbeitenden besteht (2014 beschäftigten 400‘000 Firmen im Dienstleistungssektor weniger als 9 Mitarbeitende). Darum droht zunehmend die Gefahr einer Verarmung dieser Freelancer im Alter und damit steigender Ausgaben für Ergänzungsleistungen. Ein besserer Vorsorgeschutz für solche Unternehmer, eventuell eine obligatorische BVG-Unterstellung für alle Erwerbstätigen – unabhängig von ihrem Anstellungsverhältnis –, sollte deshalb geprüft werden.

Paternalistisches Erbe

Selbst für angestellte Personen, die für einen einzigen Arbeitgeber arbeiten, hat sich die Welt seit der Einführung der obligatorischen beruflichen Vorsorge verändert. Damals hat man mehr oder weniger während des ganzen Erwerbslebens beim gleichen Arbeitgeber gearbeitet – von der Lehrstelle bis zur Pensionierung, und zwar mit einem 100%-Pensum, stets in der Schweiz und ohne Unterbrüche für Weiterbildungen oder Auslandsaufenthalte. Der Arbeitgeber kümmerte sich im Idealfall paternalistisch darum, dass seine Arbeitnehmer bei der Pensionierung gut versorgt waren.

Heute wechselt man die Stelle alle fünf bis sieben Jahre. Mobiler werden auch die Unternehmen. Die Zahl der Firmengründungen, Fusionen und Konkurse steigt. Zwischen 1980 und 2010 vervierfachte sich die Zahl der Konkursverfahren. Bei der Gründung eines Spin-offs fragt sich wohl kein Unternehmer, wie er in 40 Jahren seine Mitarbeitenden in die Pension begleiten will. Auch seine jungen Mitarbeitenden erwarten kaum, dass sie so lange in der Firma bleiben werden. In diesem Kontext drängt sich eine Anbindung der beruflichen Vorsorge an den Mitarbeitenden statt an die Arbeitsstelle auf – also die Einführung der freien Pensionskassenwahl.

Diese Beispiele zeigen: Die Politik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Finanzierungsproblemen der Altersvorsorge (Stichwort Rentenalter und Umwandlungssatz) in Grabenkämpfen festgefahren. Dabei hat sie wichtige gesellschaftliche Veränderungen und ihre Implikationen für die Altersvorsorge aus den Augen verloren. Es wird Zeit, unsere Altersvorsorge nicht nur an neuen demografischen und finanziellen Gegebenheiten, sondern auch an neuen gesellschaftlichen Entwicklungen auszurichten.

Dieser Beitrag ist im Vorsorge-Guide 2017 erschienen.