Etwa ein Drittel der Pensionäre in Schweizer Pflegeheimen benötigten 2014 weniger als 60 Pflegeminuten pro Tag. Für sie wäre eine ambulante Behandlung denkbar, zu Hause oder zum Beispiel in betreuten Wohnungen. Solche Lösungen bieten sich besonders in Umbruchsituationen an, beispielsweise wenn jemand seine Wohnung verlassen muss, plötzlich auf ein hindernisfreies Wohnumfeld angewiesen ist oder sein Leben einem zuverlässigen Notruf mit schneller Interventionszeit anvertrauen muss.

Fehlende Handlungsoptionen

Diese intermediären Strukturen bleiben jedoch älteren Menschen mit tiefem Einkommen verwehrt, weil die Miete für solche Wohnungen nicht mit Ergänzungsleistungen (EL) finanziert wird. Das Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen sieht nämlich nur zwei Tarife für das Wohnen vor: Wohnen zu Hause mit einem monatlichen Beitrag von 1100 Fr. oder Wohnen in Heimen mit Obertaxen, die je nach Kanton zwischen 84 Fr. und 330 Fr. pro Tag variieren können (vgl. «Neue Massstäbe für die Alterspflege»). Diese Taxen decken neben Pflege auch Betreuung, Kost und Logis (Hotellerie) ab. Für Personen mit tiefen Einkommen oder für EL-Bezüger ist der Eintritt ins Pflegeheim somit die einzige finanzierbare Lösung, wenn das Verbleiben zu Hause mit Hilfe der Spitex nicht mehr möglich ist, obwohl aus volkswirtschaftlicher Sicht die Pflege in einer betreuten Wohnung oft günstiger wäre. 

Kantonale Lösungen

Manche Kantone haben deshalb finanzielle Lösungen geprüft, um eine Alternative zum Heimeintritt für EL-Bezüger anzubieten. Der Kanton Genf bietet 1911 betreute Wohneinheiten an (IEPA: immeubles avec encadrement pour personnes âgées), die vor allem Bürgern mit tiefen Einkommensverhältnissen vorbehalten sind. Der Kanton Graubünden hat im Dezember 2015 das kantonale Krankenpflegegesetz angepasst, um erhöhte EL-Beiträge für betreutes Wohnen zu ermöglichen. Der Kanton Jura plant ebenfalls eine Anpassung des kantonalen EL-Gesetzes in diese Richtung: Dort soll eine Erhöhung der EL-Beiträge gegenüber dem Verbleib zu Hause um etwa 27 Fr. pro Tag eine monatliche Miete in einer betreuten Wohneinheit von ca. 2000 Fr. ermöglichen. Der Kanton Bern kannte bis Ende 2012 eine solche Regelung. In diesem Kanton lagen 2012 die EL-Maxima bei 115 Fr. für betreutes Wohnen und 161 Fr. für Wohnen im Pflegeheim. Im Rahmen der Angebots- und Strukturanpassung des Kantons Bern wurden die EL-Beiträge für betreutes Wohnen jedoch wieder abgeschafft. 

Intermediäre Strukturen (Fotolia)

Intermediäre Strukturen, etwa in betreuten Wohngemeinschaften, sind Bezügern von Ergänzungsleistungen verwehrt. (Fotolia)

Unterschiedliches Einsparungspotential

Die widersprüchlichen Trends zeigen die Komplexität der Thematik. Während die Förderung intermediärer Strukturen, auch für EL-Bezüger, grundsätzlich sinnvoll ist, sind die finanziellen Konsequenzen je nach Kanton unterschiedlich. Dabei spielen drei Hauptparameter eine Rolle: Erstens hängt das Einsparungspotenzial von der Anzahl leichtpflegebedürftiger Patienten in Pflegeheimen ab, die in einer betreuten Wohnung gepflegt werden könnten und zudem Ergänzungsleistungen beziehen. Zweitens hängt das Einsparungspotenzial vom Preisunterschied zwischen Heimaufenthalt und betreutem Wohnen ab, letzteres inklusive Spitex-Kosten. Je höher die Heimkosten bzw. je billiger das betreute Wohnen, desto grösser die Einsparungen. Der Kanton Genf, der im Schweizer Vergleich sehr hohe Heimkosten pro Tag ausweist, rechnet mit Kostenunterschieden zwischen beiden Wohnformen von bis zu 288 Fr. pro Tag. Drittens müssen diesen Einsparungen mögliche zusätzliche Kosten gegenübergestellt werden. Die Schaffung neuer EL-Tarife für betreutes Wohnen führt nicht nur zu einer Substitution im Heimbereich, sondern kann auch eine zusätzliche Nachfrage nach betreutem Wohnen generieren. EL-Bezüger, die bisher mit Hilfe von Spitex zu Hause oder bei Verwandten geblieben waren, könnten neu in eine betreute Siedlung einziehen.

Abwägungen

Tiefe EL-Tarife für betreutes Wohnen könnten die zusätzliche Nachfrage etwas dämpfen. Liegen die Tarife allerdings zu tief, wird es kaum möglich sein, betreutes Wohnen für EL-Bezüger anzubieten, was den Anreiz für einen Heimeintritt wiederum erhöhen würde. Als weitere Alternative schlägt der Verband Senesuisse eine Prüfung der Pflegebedürftigkeit von EL-Bezügern durch den Hausarzt oder eine kantonale Stelle vor. Diese Prüfung soll attestieren, dass der Umzug in eine betreute Wohnung eine Verzögerung oder gar eine Verhinderung des Heimeintritts ermöglicht.

Die Bedürfnisse der Patienten und ihrer Angehörigen sind sehr unterschiedlich und werden sich zudem mit der Zeit ändern. Umso wichtiger wird es sein, Organisations- und Finanzierungsformen zuzulassen, die komplementäre und innovative Angebote ermöglichen. Mit zusätzlichen EL-Beiträgen für das betreute Wohnen haben die Kantone ein Instrument in der Hand, das, falls intelligent gestaltet, dem Wunsch der Pflegebedürftigen nach mehr Autonomie gerecht wird und gleichzeitig die Staatsfinanzen entlasten kann.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2016 der jährlich erscheinenden Zeitschrift «Age-Dossier» erschienen. 
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.