Ist das politische System der Schweiz so demokratisch, wie es sein Name vermuten lässt? Wie lässt es sich am besten reformieren? Darüber haben Patricia Schafer (Avenir Suisse) und Ivo Scherrer (Pro Futuris) gesprochen. Die Fragen stellte Patricia Michaud (La Liberté).
La Liberté: In der Schweiz nimmt nur eine Minderheit der Bevölkerung an Abstimmungen teil. Schadet das der halbdirekten Demokratie?
Patricia Schafer: Eine vergleichsweise tiefe Stimmbeteiligung ist nicht automatisch ein schlechtes Zeichen. Viele Länder, die als weniger demokratisch gelten, haben höhere Beteiligungsraten. Oft kommt das davon, dass dort weniger oft abgestimmt wird, was jede einzelne Abstimmung wichtiger erscheinen lässt. Zudem sind die Menschen in diesen Ländern häufig unzufriedener mit ihren Regierungen. In der Schweiz sollte man den Fokus eher auf die selektive Beteiligung legen: Studien zeigen, dass rund 80 Prozent der Stimmberechtigten gelegentlich abstimmen – je nach Thema. Nur etwa jede fünfte Person nimmt nie an einer Abstimmung teil.
Ivo Scherrer: Ich sehe das grundsätzlich ähnlich, möchte aber vor einer allzu romantischen Vorstellung der Schweizer Demokratie warnen. Denn in der Realität können nicht alle gleichberechtigt mitbestimmen. Bildung und Einkommen beeinflussen die politische Beteiligung stark. Demokratie funktioniert wie Musik oder Fussball – man muss gewisse Fähigkeiten erwerben, um sie auszuüben. Dazu gehört, sich zu informieren, sich eine Meinung zu bilden, Argumente auszutauschen oder sich in einem Verein oder einer Partei zu engagieren. Das alles braucht Ressourcen. Unsere Erfahrungen bei Pro Futuris mit neuen Formaten – etwa Bürgerräte – zeigen: Wenn junge Menschen Demokratie aktiv erleben, steigt auch ihre Motivation, sich einzubringen.
Wie lässt sich Demokratie am wirksamsten vermitteln?
Schafer: Am besten auf Gemeindeebene. Dort betreffen die politischen Entscheidungen die Menschen direkt, etwa bei der Planung eines Schulhauses oder der Höhe der Steuern. Ich bin allerdings skeptisch gegenüber neuen partizipativen Formaten wie Bürgerräte. Sie sind sehr aufwändig und bringen in der Schweiz, wo es ohnehin viele Mitwirkungsmöglichkeiten gibt, nur begrenzten Mehrwert. Sinnvoller wäre es, gezielt jene zu erreichen, die in ihrem Umfeld nicht politisiert wurden, um sie für das politische Geschehen zu sensibilisieren.
Scherrer: Es stimmt, Bürgerräte binden viele Ressourcen. Unser Projekt hatte zum Ziel, einen repräsentativen Jugendrat zu bilden, der sich strukturiert mit einem komplexen Thema auseinandersetzt. Die Teilnehmenden wurden ausgelost, um die Vielfalt der Jugend in der Schweiz abzubilden – nicht nur jene, die ohnehin schon engagiert sind. Wenn das Ziel jedoch primär Bildung ist, sollte man die Zielgruppe enger fassen. Pro Futuris hat zum Beispiel Workshops für Lernende in Ausbildungsbetrieben entwickelt. So werden demokratische Kompetenzen spielerisch vermittelt.
Schafer: Ich finde es am sinnvollsten, wenn man sich auf lokaler Ebene engagiert – etwa in der Exekutive oder im Parlament einer Gemeinde. Das ist ein hervorragender Weg, um das gesamte Spektrum politischer Rechte kennenzulernen. Anstatt neue Parallelstrukturen zu schaffen, sollte man lieber bestehende Institutionen nutzen – und sie bei Bedarf etwas modernisieren.
Scherrer: Unsere Formate sollen bestehende Institutionen nicht konkurrenzieren, sondern sie ergänzen. Wer einmal an einem ausgelosten Bürgerrat teilgenommen hat, ist oft motivierter, sich später auch politisch einzubringen – vorausgesetzt, die Ergebnisse fliessen tatsächlich in die Entscheidungen ein. Sonst entsteht Frust, und die Motivation sinkt. Auch Freiwilligenarbeit, etwa in Sport- oder Kulturvereinen, kann wertvolle soziale Kompetenzen fördern, die indirekt der Demokratie zugutekommen.
Sollte der Zugang zu politischen Rechten erweitert werden?
Schafer: Grundsätzlich sollten jene über politische Fragen entscheiden, die von den Konsequenzen betroffen sind und Steuern zahlen. In der Schweiz stellt sich die Frage, wie man mit dem wachsenden Anteil an ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern umgehen soll. Sie haben meist kein Stimm- und Wahlrecht. In einigen Kantonen und Gemeinden dürfen sie zwar unter bestimmten Bedingungen mitbestimmen, auf nationaler Ebene jedoch nicht. Eine Möglichkeit wäre, ihnen das Recht zu geben, Initiativen und Referenden zu unterschreiben oder zu lancieren – ohne gleich das volle Stimmrecht einzuführen.
Scherrer: Ich stimme zu. Ob mit oder ohne Schweizer Pass – wir leben und arbeiten alle zusammen und müssen gemeinsam Lösungen für unsere Herausforderungen finden. Dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung kein Stimmrecht hat, ist aus meiner Sicht einer der grössten Demokratiedefizite. Um das zu beheben, sehe ich zwei Wege: Entweder erhalten ausländische Staatsangehörige – etwa mit C-Bewilligung – das Stimmrecht zumindest auf Gemeinde- oder Kantonsebene. Oder das Einbürgerungsverfahren wird vereinfacht.
Ist das realistisch?
Scherrer: Momentan stehen die Zeichen eher auf Rot. Die Genfer Stimmbevölkerung hat letztes Jahr die Initiative «Une vie ici, une voix ici» abgelehnt, und der Bundesrat hat im Februar die Initiative «Für ein modernes Bürgerrecht» verworfen. Trotzdem sollten wir uns weiter für eine inklusivere Demokratie einsetzen. In der Geschichte der Schweiz mussten viele Gruppen lange für politische Rechte kämpfen. Unsere Demokratie war nie perfekt – und sie ist es bis heute nicht.
Wir haben darüber gesprochen, wie man die Bürgerbeteiligung quantitativ erhöhen kann. Welche Möglichkeiten gibt es, sie qualitativ zu verbessern?
Scherrer: Studien zeigen, dass sich vor allem Menschen mit höherer Bildung und Einkommen in Vereinen, Gemeinden oder Nachbarschaften engagieren. Diese Ressourcen sind ungleich verteilt. Um die Vielfalt der Engagierten zu erhöhen, könnte man gesetzlich ermöglichen, dass Arbeitnehmende ein bis zwei Wochen pro Jahr für Freiwilligenarbeit einsetzen dürfen.
Schafer: Ich bin skeptisch, ob das die politische Beteiligung tatsächlich erhöhen würde. Das Schweizer Milizsystem lebt vom freiwilligen Engagement. Es braucht dafür weniger neue Gesetze als vielmehr mehr Bewusstsein – bei der Bevölkerung und in der Wirtschaft – für den Wert dieses Engagements. Viele Unternehmen unterstützen das bereits, etwa mit zusätzlichen freien Tagen oder flexiblen Arbeitszeiten.
Das Interview ist zuerst auf Französisch in «La Liberté» vom 12. September 2025 erschienen.