Migration war in der Schweiz schon immer «historische Normalität». Auch wenn sich das Land erst Ende des 19. Jahrhunderts vom Aus- zum Einwanderungsland wandelte, zog die Eidgenossenschaft schon früher Menschen an, die hier Zuflucht vor Verfolgung oder bessere wirtschaftliche Perspektiven suchten.
Die Migrationspolitik der Schweiz schwankt seit jeher zwischen Öffnung und Abwehr, zwischen wirtschaftlichen Nutzenüberlegungen und Überfremdungsängsten. Die Geschichte seit der Bundesstaatsgründung lässt sich grob in vier Perioden einteilen: Vom liberalen zu restriktiveren Migrationsregimen und wieder zurück.
1. Offene Grenzen
Bis zum Ersten Weltkrieg war der Grenzübertritt frei. Eine Bewilligung brauchte nur, wer sich in einem Kanton niederlassen wollte. Die Kompetenz in Ausländerfragen lag bei den Kantonen, wobei die Schweiz mit den Nachbarstaaten gegenseitige Niederlassungsfreiheiten pflegte. War die Schweiz in den ersten Jahrzehnten nach Bundesstaatsgründung noch ein Auswanderungsland, wendete sich das Blatt mit der Industrialisierung.
Für die Industrie und den Bau der (Bahn-)Infrastruktur reichten die einheimischen Arbeitskräfte nicht mehr aus: Arbeiterquartiere nahe von Industriegebieten und Eisenbahnlinien wurden zu Hotspots der Zuwanderung. Zwischen Bundesstaatsgründung und 1910 stieg der Ausländeranteil von 3% auf 15%.

Weit über dem landesweiten Durchschnitt lag der Anteil zum selben Zeitpunkt in grenznahen Städten wie Lugano (50%), Genf (42%) oder Basel (38%). In diversen Branchen wie etwa Eisenbahnbau (9 von 10 Arbeitern) oder Hochbau (5 von 10 Arbeitern) waren ausländische Arbeitskräfte nicht wegzudenken.
Angesichts der rasant steigenden Zuwanderungszahlen stieg die Angst vor Identitätsverlust, Lohndumping und Arbeitslosigkeit: Der Begriff der «Überfremdung» tauchte zum ersten Mal auf – und sollte so schnell nicht mehr verschwinden.
2. Überfremdungsabwehr
Der Erste Weltkrieg beendete den freien Personenverkehr. Die Grenzen zu den Nachbarn wurden dicht gemacht, die erste Ausländerinitiative der Bundesstaatsgeschichte lanciert (1920). In dieser Situation übernahm der Bund erstmals mit einem bundesstaatlichen Migrationsregime das Zepter in der Migrationspolitik.
Mit der 1917 gegründeten Fremdenpolizei sollte eine «Überfremdung der Schweiz» verhindert werden. Ein neues Bundesgesetz regelte fortan Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer. Die restriktive Handhabung der Zuwanderung verfehlte ihr Ziel nicht: Der Ausländeranteil sank zwischen 1910 und 1941 um zwei Drittel auf 5%.
3. Gastarbeitermodell
Die Aufschwungphase nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einem hohen Arbeitskräftebedarf, der mit einer wirtschaftspolitisch motivierten Zuwanderungspolitik adressiert wurde. Zentrale Rolle spielte das «Saisonnierstatut», womit der Arbeitskräftebedarf gedeckt, eine Niederlassung der Ausländer aber verhindert werden sollte.
In den 1960er Jahren versuchte der Bund erneut aufkommende Überfremdungsängste durch eine «Plafonierungspolitik» (Kontingentierung) einzudämmen. Während die Ausländer in der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre als «Konjunkturpuffer» fungierten, war dies in der Stagnation der 1990er Jahre kaum mehr der Fall. Die Einwanderer verfügten inzwischen über bessere Aufenthaltsbedingungen.
Zur hohen Ausländerarbeitslosigkeit kamen Flüchtlingsströme hinzu, es entbrannte eine migrationspolitische Debatte. Im Zuge dessen wurde das «Drei-Kreise-Modell» (später «Zwei-Kreise-Modell») entwickelt, das die Zuwanderung basierend auf der kulturellen Distanz der Länder differenzierte.
Die Einwanderungswelle in der Hochkonjunktur nahm beträchtliche Ausmasse an. Zwischen 1950 und 1970 stieg der Ausländeranteil um 10 Prozentpunkte – die ausländische Wohnbevölkerung überschritt erstmals die Millionengrenze. Gleichzeitig verschoben sich allmählich die Herkunftsländer. Kamen zuerst primär Italiener, waren es später Spanier und Portugiesen und in den 1990er Jahren vor allem Einwanderer aus Ex-Jugoslawien.
4. Personenfreizügigkeit
Das 2002 in Kraft getretene Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU leitete einen Paradigmenwechsel mit der staatlich gesteuerten Zuwanderungspolitik ein. Die Schweiz verfügt seither – wie zu Beginn des Bundesstaates – wieder über ein liberales Niederlassungsrecht.
Damals wie heute bestimmt(e) vor allem der Bedarf der Wirtschaft über das Ausmass der Zuwanderung. Während die Grenzen für die europäischen Nachbarn geöffnet wurden, ist die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen weiterhin eingeschränkt.
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Literatur
D’Amato, G. (2008). Erwünscht, aber nicht immer willkommen: Die Geschichte der Einwanderungspolitik. In D. Müller-Jentsch (Hrsg.), Die neue Zuwanderung: Die Schweiz zwischen Brain-Gain und Überfremdungsangst (S. 27–44). Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.
Holenstein, A., Kury, P., & Schulz, K. (2018). Schweizer Migrationsgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Baden: Hier und Jetzt.
Koller, G. (2024). Ankommen, um zu bleiben. NZZ Geschichte, (50), 20ff.
Wottreng, W. (2000). Ein einzig Volk von Immigranten: Die Geschichte der Einwanderung in die Schweiz. Zürich: Orell Füssli.
