Das Bierkartell wird der heutigen Generation von Schweizer Craft-­Beer­-Trinkerinnen und ­-Trinkern kein Begriff mehr sein. Und doch beeinflusst sein Erbe noch heute stark, was für Biere wir in der Schweiz trinken. Von 1935 bis 1991, unter der Konvention des Schweizerischen Bierbrauervereins (SBV), wurde der Begriff «Konkurrenz» aus dem schweizerischen Biermarkt schlicht ausgeschlossen. Jede Brauerei, die im SBV Mitglied war, erhielt ein exklusives Vertriebsgebiet zugewiesen; die Preise waren festgeschrieben, und nur vier Biertypen mit exakt definiertem Stammwürzegehalt durften hergestellt werden. Die Konvention regelte auch die Flaschengrösse, die erlaubten Zutaten, Geschenke und Gegengeschäfte mit den Gastwirten und beschränkte das Marketing der einzelnen Brauereien stark zugunsten übergreifender Werbekampagnen für «Schweizer Bier».

Das Hauptziel dieses radikalen Eingriffs in das Marktgeschehen erklärt der Schweizer Brauerei­-Verband (so heisst der Schweizerische Bierbrauerverein seit 2005) auf seiner Website wie folgt: «Das Bierkartell war nie ein Preiskartell, sondern ein Kostenkartell. Um schweizweit Bier zu billigen Preisen anbieten zu können, wurden alle jene Elemente des Wettbewerbs ausgeschaltet, welche Mehrkosten verursacht hätten. Der Profit wurde nicht mit gesteigerten Einnahmen durch überhöhte Preise erzielt, sondern in erster Linie aufgrund tief gehaltener Ausgaben.»

Kollateralschäden

Diese hübsch aufgeräumte Utopie – jede Brauerei an ihrem Plätzchen, ein Plätzchen für jede Brauerei und einheitliches, günstiges Bier für alle – hatte allerdings ihre Nebeneffekte. So liessen die exklusiven Vertriebsgebiete einer Brauerei, die wachsen wollte, keine andere Möglichkeit, als einen Konkurrenten aufzukaufen und zu liquidieren, um dessen Gebiet übernehmen zu können. Das führte dazu, dass im Jahr 1990 nur noch 32 der 60 Brauereien existierten, die das Land 1940 gezählt hatte. Vor 1900 hatte es in der Schweiz sogar noch 530 Brauereien gegeben.

Nach der Auflösung des Kartells 1991 folgte eine weitere, extrem rasche Konzentration mit zahlreichen Brauereischliessungen, da etliche der verbleibenden Ex-­Kartellisten «Konkurrenz» und «Innovation» nicht mehr im Repertoire hatten. So entstanden in wenigen Jahren die Brauriesen Feldschlösschen (1999 wiederum von Carlsberg übernommen) und Calanda­ Haldengut (1996 von Heineken aufgekauft), die noch heute den Schweizer Biermarkt dominieren – jedenfalls, was den Ausstoss angeht.

Das Schweizer Bierkartell hat zu einer Einebnung des Charakters und der spezifischen Eigenheiten der einzelnen Biere geführt. (Illustration Rahel Hediger, Avenir Suisse)

Was das Bier selbst betrifft, führte das Kartell zu einer Einebnung des Charakters und der spezifischen Eigenheiten der einzelnen Biere. Die festen Preise erforderten identische Produkte, weshalb die Konvention vier Biertypen festschrieb. So wurde Bier ein austauschbares, standardisiertes Produkt, das theoretisch im ganzen Land gleich schmeckte – eine Wahrnehmung, die sich durch grosse (und im Übrigen oft toll illustrierte) Werbekampagnen des SBV für «Schweizer Bier» tief im Bewusstsein der Konsumenten festsetzte. Die Abwesenheit jeglicher Konkurrenz förderte ausserdem nicht unbedingt das Brauen fachlich einwandfreier Biere, konnte doch ein unzufriedener Kunde nicht einfach woandershin wechseln.

Die vier festgesetzten Biertypen, alle untergärig, sind Spielarten deutscher Vorbilder: Das «Schweizer Lager Hell» mit 12 Prozent Stammwürze und 4,8 Volumenprozent Alkoholgehalt erinnert mit seinem malzig­süsslichen Körper eindeutig an ein «Münchner Helles», das «Schweizer Lager Dunkel» (ebenfalls 12 Prozent/4,8 Prozent) an ein «Münchner Dunkles». Das herbe, stärker gehopfte «Schweizer Lager Spezial» mit 13 Prozent Stammwürze und 5,2 Prozent Alkohol schmeckt wie ein Pils, das vom rechten Weg abgekommen ist, während das «Festbier» (14 Prozent/5,6 Prozent) zwischen einem bayerischen Oktoberfestbier und einem «Hellen Bock» anzusiedeln ist.

Die Konvention führte auch eine Art Reinheitsgebot schweizerischer Prägung ein. Eine 1900 in die Verbandsstatuten des SBV übernommene Klausel bestimmte: «Unter Bier ist ein Getränk zu verstehen, welches aus Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser durch Maischen und alkoholische Gärung gewonnen wird. Surrogate für Gerstenmalz und Hopfen sind verboten.» Weizen­ oder Roggenbiere zu brauen war den Verbandsmitgliedern also ebenso verboten wie jede Beigabe von Gewürzen, Aromakräutern oder Früchten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der Widerstand gegen das Kartell formierte sich verstärkt ab den 1960er Jahren. Brauereien ausserhalb des Kartells wurden gegründet: Die Basler Fischerstube (1974) und Boxer (1960) aus Lausanne sind relativ bekannt. Wer aber weiss, dass Lupo Getränke (gegründet 1963) seit 2014 die grösste unabhängige Brauerei der Schweiz ist? Von Ramseier Suisse übernommen, produziert Lupo in aller Stille austauschbares Billigbier, unter anderem für Denner und Landi.

All diese Widerständler produzierten dennoch ausschliesslich Biere, die den vom Kartell bestimmten vier Brautypen entsprachen. Der Anstoss zu einer Erweiterung der Produktpalette kam aus der Romandie, wo ab 1973 Importeure und Vertriebspartner ausländischer Spezialitätenbiere den Markt aufmischten. Allein schon durch die Präsenz belgischer, später britischer, deutscher und weiterer Spezialitäten änderte sich die Wahrnehmung dessen, was Bier sein konnte, grundlegend.

Und dann gab es, im Innersten des Kartells, die Brauerei Hürlimann in Zürich. Sie war in den 1970er Jahren eine Spitzenadresse im Bereich der Forschung mit Bierhefen und vertrieb untergärige Hefestämme, die heute noch verwendet werden. Die Hürlimann-­Brauer wollten ihr Können auch öffentlich demonstrieren und lancierten in der Folge zwei «Extrembiere»: Das «Birell» mit 0,8 Prozent Alkohol auf Basis eines für niedrigen Stammwürzegehalt optimierten Hefestamms und, am anderen Ende der Skala, das «Samichlaus» mit 14,6 Prozent Alkohol auf Basis einer Hefe, die auch bei hohen Stammwürze­ und Alkoholgehalten gut arbeitete. Das «Samichlaus» war 15 Jahre lang praktisch das einzige weltweit bekannte Bier – bis Feldschlösschen Hürlimann 1996 schloss und die Produktion einstellte. Marke, Rezept und Hefe wurden 1999 an die österreichische Brauerei Schloss Eggenberg verkauft – gerade noch, bevor die Brauaktivitäten der Feldschlösschen­-Gruppe von Carlsberg übernommen wurden.

Der Bier-Röstigraben

Die Bekanntheit des «Samichlaus» hatte aber ohnehin eher von einem viel grundsätzlicheren Trend zu mehr Schweizer Biervielfalt abgelenkt. Als sein Verschwinden 1997 offiziell angekündigt wurde, war die erste Generation schweizerischer Mikrobrauereien mitten im Aufbruch begriffen. In der Romandie wurden Hobbybrauer zu Profis – so zum Beispiel bei der Brasserie des Franches­-Montagnes (1997 gegründet) – und brauten obergärige Biere nach belgischen oder britischen Vorbildern: Weissbiere, Klosterbiere, Stouts usw. Auf der deutschschweizerischen Seite blieben die Brauer – oft noch die gleichen wie zuvor unter Kartellbedingungen – in der an Deutschland orientierten Bier-Orthodoxie verhaftet. Unfiltrierte Lagerbiere und allenfalls ein paar Hefeweizen waren das Höchste der Gefühle. Mit der erwähnenswerten Ausnahme des Berner «Bären-­Bräu» (1998–2004), wo Markus Bühler, seiner Zeit weit voraus, mit gleicher Leichtigkeit auf der deutschen, der belgischen und der angelsächsischen Bierklaviatur spielte und «Einheitspfütze – nein, danke!»­Plaketten vertrieb.

Es genügte, in den Jahren 2005 bis 2010 die Solothurner Biertage zu besuchen, um einen Bier-­Röstigraben festzustellen: Einer Armada von deutschschweizerischen Brauereien mit ihren «deutschen» Bieren stand das gallische Dorf der unzähmbaren Welschen mit ihren obergärigen, würzigen, stark gehopften und herben Kreationen gegenüber – durchaus sendungsbewusst in ihrer Mission, die lokale Öffentlichkeit aus ihrer Komfortzone zu locken. Das Ganze nicht ohne eine Prise Sarkasmus angesichts der Haltung der kleinen deutschschweizerischen Brauerszene, die einerseits von oben auf sie und ihre bizarren Biere herabschaute und andererseits klagte, wie schwierig es sei, auf dem Schweizer Markt rentabel zu wirtschaften. In der Tat ist es natürlich schwierig, mit einem Mehrwert zu überzeugen, wenn man das Gleiche braut wie die Industriebrauereien – da ist es doch naheliegend, etwas anderes zu versuchen, nicht? Zu der Zeit war das anscheinend nicht offensichtlich genug.

Die Renaissance

BFM und Trois Dames haben seither eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei gespielt, auch in der Deutschschweiz eine Bierkultur jenseits des Kartellbereichs zu etablieren. Zunächst gelang dies vor allem in den grösseren Städten. Je länger, je zahlreicher kamen – auch in der Deutschschweiz – von der über den Atlantik schwappenden US-­amerikanischen Craft-Beer­-Welle inspirierte Brauereien hinzu. Der unglaubliche Anstieg der Brauereizahl hält auch 2018 weiter an, und wir sind an einem Punkt angekommen, wo das American IPA eine für jede neue Mikrobrauerei unverzichtbare Grösse geworden ist und den Möglichkeiten, was ein Bier sein kann, keine Grenzen mehr gesetzt scheinen. Selbst der Bier-­Röstigraben ist so gut wie zugeschüttet.

Die aktuelle Zahl von über 900 aktiven Schweizer Brauereien ist aber mit Vorsicht zu geniessen: Es handelt sich dabei um die bei der Eidgenössischen Zollverwaltung registrierten Bierproduzenten. Dort muss man sich aber bereits ab 400 Litern jährlich produziertem und (jenseits des engen Familienkreises) vertriebenem Bier eintragen – sogar, wenn man es nicht verkauft. Vielleicht 200 Schweizer Brauereien kann man als mehr oder minder professionell bezeichnen – in dem Sinne, dass sie mindestens eine halbe Stelle finanzieren. So gerechnet, ist die Brauereidichte etwa mit Dänemark oder der kanadischen Provinz Québec vergleichbar, die ähnliche Bevölkerungszahlen, aber einen restriktiveren Rechtsrahmen aufweisen.

Bei den nach der Kartellära übriggebliebenen Regionalbrauereien in der Deutschschweiz, die sich am besten aus der Affäre gezogen haben, fällt eine Gemeinsamkeit auf: Es gab kurz vor oder kurz nach 1991 einen Wechsel an der Unternehmensspitze. Die Brauerei Locher in Appenzell («Quöllfrisch» u.a.) ist ein gutes Beispiel: Man erkannte dort früher als andere Nischen und Marktlücken wie «Bio» und vermochte die entsprechenden Biere auch zu brauen – und den Ausstoss in 20 Jahren mehr als zu verfünfzehnfachen (!).

Carlsberg Suisse und Heineken Suisse dagegen wiederholten noch lange gebetsmühlenartig die Behauptung, was der Konsument wolle, sei «ein Bier zu einem bestimmten Preis» – wie zur Zeit des Kartells –, ruhten sich auf ihrem Einfluss im Hotel­ und Gaststättenbereich aus, den sie über Bierlieferverträge langfristig zu sichern suchten, und redeten sich ein, Innovation auf dem Biermarkt sei es, zuckrige Biermischgetränke mit ausgefallenen Aromen zu kreieren. Seit einigen Jahren scheinen die beiden Riesen nun auch das Craft-­Beer­-Segment mit mehr oder weniger vergleichbaren Bieren sowie Importen besetzen zu wollen.

Aber haben sie wirklich verstanden, dass es sich um eine grundlegende, andauernde Welle und nicht nur um eine Modebewegung handelt? Ganz ehrlich: wenn ich lese, wie der Schweizerische Brauereiverband – dessen grösste Teilhaber Carlsberg und Heineken sind – Craft­-Biere auf seiner Website definiert, habe ich da durchaus meine Zweifel: «Bei Craft-Bieren steht die Idee des Brauers für ein Bier am Anfang fest, es wird gebraut und veröffentlicht, unabhängig von der Nachfrage nach diesem speziellen Bier. Verkauft sich das Bier gut, ist dies ein schöner Nebeneffekt. Im Gegensatz dazu steht die Brauerei, welche ein Bier braut, welches vom Markt gefordert wird. Das Bier soll genau den Geschmack der Mehrheit treffen und erfolgreich im Markt agieren.»

Die ganze Geschichte der Mikrobrauereien seit den 1970er Jahren zeigt aufs Klarste, dass Marktnischen sehr lukrativ sein können, wenn man sie zu erkennen und entwickeln weiss. Und dass das vom Bierkartell vererbte «One size fits all»-­Brauen eindeutig überholt ist. Dass immer noch über 80 Prozent des in der Schweiz getrunkenen Bieres den Kartellkriterien genügen würden, zeigt allerdings die Langzeitwirkung solcher Markteingriffe: Noch bleibt ein gutes Stück zu gehen, bis das Kapitel «Bierkartell», dieses so ärgerliche wie prägende Stück Schweizer Braugeschichte, endgültig geschlossen werden kann.

Laurent Mousson ist einer der profiliertesten Schweizer Bier- und Brauereiexperten. Er ist Juror bei zahlreichen Bierpreisen, zuletzt beim Beer World Cup 2018 in Nashville, war von 2004 bis 2011 Vizepräsident der European Beer Consumers Union und unterrichtet regelmässig im Bereich der Bierkultur und -Verkostung. Mousson lebt in Biel.

Die Beiträge unserer Sommerreihe «Grenzen sprengen!» sind als Sonderpublikation der Zeitschrift «Schweizer Monat» erschienen.