Die Löhne der Frauen haben in den letzten 30 Jahren markant und kontinuierlich aufgeholt. Gemäss den Daten der AHV sind die Reallöhne der Frauen von 1982 bis 2013 (auf Vollzeitbasis) um mehr als 50% gestiegen, diejenigen der Männer nur um knapp 30% (siehe Grafik). Die Lohnschere zugunsten der Frauen hat sich seit 2007 eher noch weiter geöffnet. Dies sind wichtige Ergebnisse der Avenir-Suisse-Studie Gleichstellung – warum der Arbeitsmarkt nicht versagt vom November 2015. Das Aufholen der Frauen zeigt sich noch deutlicher, wenn man nicht die Löhne zum Massstab nimmt, sondern die Lohnsumme. Wegen ihrer stark zunehmenden Erwerbsbeteiligung ist die Lohnsumme der Frauen im besagten Zeitraum inflationsbereinigt um 140% gestiegen, die von Männern verdiente reale Lohnsumme hingegen nur um 64%.
Die verbreitete Ansicht, dass der Schweizer Arbeitsmarkt die Frauen noch immer im grossen Stil diskriminiere, verstellt die Sicht auf diese bemerkenswerte Entwicklung. Zweifellos sind seit den achtziger Jahren etliche Benachteiligungen der Frauen verschwunden, doch als Erklärung für den frappanten Unterschied zwischen den Lohnentwicklungen von Männern und Frauen greift dies viel zu kurz. Dies ist anhand eines Vergleichs mit dem Schweizer Lohnindex schön zu sehen. Dieser vom Bundesamt für Statistik berechnete Index verwendet eine immer gleiche Kategorie von Arbeit (konstante Qualifikation). Der Vergleich der beiden Zeitreihen zeigt zweierlei: Die effektiven Löhne steigen erstens viel schneller als es der Schweizer Lohnindex anzeigt, weil immer qualifiziertere Arbeitskräfte immer anspruchsvollere Jobs ausführen. Und zweitens hätten die Frauen im Vergleich mit den Männern nur bescheidene Lohnfortschritte erzielt, würde man dem Schweizer Lohnindex glauben.
Der schnellere Anstieg der Frauenlöhne ist ein hervorragendes Beispiel dafür, was Bildung vermag. Das Aufholen der Frauenlöhne ist damit zur Hauptsache auf den steigenden Bildungsstand der Frauen zurückzuführen. Betrug der Frauenanteil von Studierenden auf Tertiärstufe (Universitäten, Fachhochschulen, höhere Berufsbildung) Anfang der achtziger Jahre noch 30%, so erreichte das Geschlechterverhältnis 2008 den Gleichstand. Die heutigen Berufsanfängerinnen sind also im Schnitt viel besser gebildet als die Frauen, die pensioniert werden und aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Dieser Prozess ist der Antreiber der beschriebenen Lohnentwicklung. Er wird noch mindestens 20 Jahre anhalten, selbst wenn der Frauenanteil auf Tertiärstufe nicht weiter steigt.
Dazu kommt: Die bessere Ausbildung erhöht den Anreiz, während der Familienphase im Arbeitsmarkt zu bleiben. Junge Frauen von heute werden also im Laufe ihrer Arbeitskarriere mehr Berufserfahrung akkumulieren als ihre älteren Kolleginnen, deren Erwerbsbiografien oft von längeren Unterbrüchen geprägt sind. Auch dies wirkt sich positiv auf den Lohn aus. Der schnellere Anstieg der Frauenlöhne wird darum noch für lange Zeit ein Selbstläufer bleiben. Vor allem aber ist er ein hervorragendes Beispiel dafür, was Bildung vermag. Als Investition in Wissen und Fähigkeiten macht sie uns produktiver, was der Arbeitsmarkt honoriert. Würden die Frauen bei der Studienwahl neben den Interessen noch stärker die Karrierechancen (sprich: die Bildungsrendite) berücksichtigen, wie dies viele Männer ganz selbstverständlich tun, könnten sie den Aufholprozess weiter beschleunigen.
Dieser Artikel erschien am 11.1.2016 im Politblog des «Tages-Anzeigers».