Die Zuwanderung aus der EU gehört gegenwärtig nicht zu den Hauptsorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Sie haben – wie die Franzosen etwas sadistisch zu pflegen sagen – «d’autres chats à fouetter»: Die Invasion der Ukraine, eine drohende Energiekrise und die Herausforderungen des Klimawandels machen derzeit mehr zu schaffen. Dennoch sind manche in der Schweiz immer noch davon überzeugt, dass von der Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU eine grundlegende Gefahr für die Eidgenossenschaft ausgeht. Sie zweifeln daran, dass die einheimischen Arbeitnehmer oder gar die Unternehmen davon profitieren. Trotz des eher dürftigen Ausgangs des Brexits für die Briten (die dieses Jahr den grössten Rückgang ihrer Kaufkraft seit den 1950er Jahren erleiden), arbeiten sie weiterhin am «Swexit», sprich an der Erosion des bilateralen Wegs. Oder sie malen das Bild des hohen Schweizer Lohnniveaus, das durch die Zuwanderung bedroht wird, und rufen deshalb nach noch mehr Lohnschutz.

Unbelehrbare Zuwanderungskritiker

Die links- und rechtskonservativen Zuwanderungskritiker zeigen damit, dass sie nicht bereit sind, aus der Geschichte der Personenfreizügigkeit und den Schweizer Erfahrungen zu lernen. Denn trotz der umfassenden Niederlassungsfreiheit, worüber EU-Bürger seit Jahrzehnten verfügen, fanden innerhalb der EU keine Massenwanderungen statt. Letztes Jahr lebten gerade einmal 4% der Personen, die in einem Mitgliedstaat der EU/Efta geboren wurden, ausserhalb ihres Geburtsstaates.

Zwar haben sich davon rund 7%, also 1,4 Millionen Personen, in der Schweiz niedergelassen. Eine durchaus beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass unser Land nicht einmal 2% der Bevölkerung der EU/Efta ausmacht. Nur: Dies hat wenig mit dem Abkommen zu tun, das seit 2003 die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU regelt. Bereits vor Inkrafttreten dieses Abkommens – als noch die Fremdenpolizei (und nicht die Wirtschaftsnachfrage) darüber entschied, wer in der Schweiz eingestellt werden durfte – war es nicht anders. Anfang der Nullerjahre lag der Schweizer Anteil an der intraeuropäischen Migration mit rund 9% sogar etwas höher als heute.

Die Schweiz profitiert seit jeher von Brücken für fremde Arbeitskräfte – nicht erst seit der Personenfreizügigkeit: die Ponte dei salti über die Verzasca. (Claudio Schwarz, Unsplash)

Die PFZ hat nicht so sehr das Ausmass, sondern vielmehr die Zusammensetzung der Migration in der Schweiz verändert. Vor der PFZ wanderten zu über 50% niedrigqualifizierte und nur zu 15% hochqualifizierte Ausländer ein. Heute ist das Gegenteil der Fall. Dafür sind Schweizer Unternehmen bereit zu zahlen: Zuwanderer erzielen bei Ankunft in der Schweiz überdurchschnittliche Löhne. Ohnehin geht der Wanderungssaldo zwischen der Schweiz und der EU seit 2013 tendenziell zurück. Fachkräfte sind nicht nur in der Schweiz knapp.

Zunehmende Lohndifferenziale

Schaut man sich die Folgen dieser Zuwanderung für den Arbeitsmarkt an, deutet wenig darauf hin, dass einheimische Arbeitskräfte auf einen besonderen Schutz angewiesen wären. Auch hier sind die Erfahrungen innerhalb der EU lehrreich. Obschon zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin hohe Lohndifferenzen bestehen, werden sie nur sehr zögerlich durch Migration ausgeglichen. Dies gilt umso mehr für die Schweiz: Wenn überhaupt, haben Lohndifferenziale mit dem angrenzenden Ausland in den letzten Jahren tendenziell zugenommen.

So beklagen die lombardischen Unternehmen regelmässig den Verlust ihrer bestqualifizierten – und bestbezahlten – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Tessiner Firmen. Dies mit gutem Grund, wie eine neue italienische Studie zeigt. Mit dem freien Zugang der Grenzgänger zum Schweizer Arbeitsmarkt haben Unternehmen im grenznahen Italien bis zu 12% ihrer Belegschaft verloren. Sie zahlen heute im Durchschnitt tiefere Löhne, weil die produktivsten Mitarbeiter nun in Lugano oder Mendrisio arbeiten, und die Firmen Mühe hatten, diese Abgänge zu ersetzen.

Der Anstieg der Löhne in der Schweiz kam überproportional den tieferen und mittleren Löhnen zugute. Das liegt nicht so sehr an der bürokratischen und marktabschottenden Ausgestaltung des Lohnschutzes Schweizer Prägung. Vielmehr stehen die hochqualifizierten Zuwanderer in einer komplementären Beziehung zu den übrigen Erwerbstätigen. Im Klartext: Die Zuwanderung der Hochqualifizierten hat die Löhne der «Büezer» in der Schweiz nach oben getrieben.

Die wichtigsten Effekte der PFZ für die Schweiz haben indes nicht unmittelbar mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Die PFZ bleibt die wichtigste Bedingung für den Zugang der Schweiz zum grossen EU-Binnenmarkt. Das ist für unsere (Volks-) Wirtschaft matchentscheidend. Damit sichert die PFZ nicht nur unsere Arbeitsplätze, sie sorgt auch für eine höhere Wettbewerbsintensität und ein höheres Produktivitätswachstum. Kurzum: Sie sorgt für mehr Wohlstand in der Schweiz.